Wiederentdeckung der modernen Malerin Ottilie W. Roederstein im Frankfurter Städel Museum.
Aus stahlblauen Augen schaut uns eine junge Frau beinah trotzig entgegen. Ihre Mimik ist ernst, ihr Blick entschlossen. Das krause, blonde Haar lugt unter einem leuchtend roten Barett hervor. Ganz klassisch als Schulterstück präsentiert sich die junge Frau in einem dunklen Gewand vor dem monochromen Hintergrund. Die Lichtführung des Porträts aus dem Jahr 1894 ist dramatisch, legt die zarten Gesichtszüge halbseitig in Schatten wie Licht. Die hellen Augen lösen sich so besonders strahlend aus mit Pinselstrichen dunkel gewebtem Dickicht. Nicht zufällig sind dabei die Analogien zu Rembrandt, erinnert die dramatische Lichtführung an dessen meisterhafte Porträts. Die Inschrift am oberen Bildrand weist die junge Frau selbstbewusst als Malerin O. W. Roederstein aus. Ein Selbstbildnis also, dem noch viele weitere folgen sollten.



Im Kontext der großen Retrospektive “Frei. Schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein” im Frankfurter Städel Museum wurden all diese Selbstporträts innerhalb eines Raums in direkten Bezug zueinander gesetzt. So spannt sich der Bogen von der jungen Künstlerin bis zu im hohen Alter geschaffenen Selbstbildnissen, reicht die Spannweite vom sichtbaren Einfluss der alten Meister bis zur impressionistischen Pinselführung. Im unmittelbaren Vergleich werden die Gesichtszüge der Malerin zunehmend strenger, der Blick entschlossener, wirkt die Mimik mit der in tiefe Furchen gelegten Stirn fast grimmig. Ein Porträt von 1917 zeigt die mittlerweile 58 Jahre alte Künstlerin auf dem Höhepunkt ihres Schaffens mit erhobenen Pinseln, den Attributen ihrer Zunft. Die grau gewordenen Haare sind erneut streng nach hinten gebunden, korrespondieren in ihrer Farbigkeit mit dem hochgeschlossenen Hemd. Angesichts ihrer äußerlichen Erscheinung und des schlichten Hintergrunds, der weder Ausblick in eine Landschaft noch in die Raumflucht eines Ateliers gewährt, ist das Bildnis von einem Reigen aus Beige- und Weißtönen beherrscht, wirkt Roederstein fast wie eine Wölfin inmitten eines Schneesturms. Entstanden während der Wirren des Ersten Weltkriegs ist es tatsächlich ein Sturm, der die Welt damals in Atem hielt, auf Roedersteins seelische Verfassung ebenfalls nicht ohne Wirkung blieb. Je näher man jedoch an die eigens erstellte Charakterstudie rückt, der Malerin Auge in Auge entgegentritt, desto mehr farbige Details wie ein den stechenden Blick verstärkender, blauer Lidstrich oder in Farbe getunkte Pinselspitzen offenbaren sich.
Wer also ist die Malerin Ottilie Roederstein, die sich so selbstbewusst mit Großmeistern wie Rembrandt misst, sich in männlich konnotierter Kleidung, mit Autofahrermütze oder rauchend als den Kollegen ebenbürtig in Szene setzt? Tatsächlich galt Roederstein um 1900 als eine der gefragtesten Porträtistinnen im deutschsprachigen Raum, reichte ihr Prestige sogar bis in die damalige Kunsthauptstadt Paris. Fernab geschlechterspezifischer Rollenklischees versuchte die Malerin mittels männlicher Attribute und Kleidung, den Fokus weg von ihrem Geschlecht auf die Kunst zu verschieben. Aufgewachsen als Tochter in einer gutbürgerlichen Familie war es keineswegs üblich, überhaupt einen Beruf zu ergreifen. Doch die 1859 in Zürich geborene Roederstein setzte sich gegen alle Widerstände durch und nahm Unterricht in privat geführten Damenateliers in ihrem Heimatort, in Berlin sowie Paris. Denn Frauen war es zu dieser Zeit noch untersagt, an staatlichen Kunstakademien zu studieren. Mittels repräsentativer Porträts wie “Miss Mosher oder Sommerneige / Fin d’été” aus dem Jahr 1887 stellte sich nach der künstlerischen Ausbildung schnell Erfolg ein. Die überlängten Gliedmaßen, das blütenweiße Inkarnat und das feurige Haar lassen die Pianistin auf dem Gemälde beinah elfengleich erscheinen. In ihren Händen hält sie einen nach unten sinkenden Blumenstrauß, der sich bunt vor dem schwarzen Kleid und einem dunkelroter Glut gleichenden Hintergrund nach vorne schraubt. Das ganzfigurige Frauenporträt entsprach dem damaligen Zeitgeschmack, sodass es sich – auf der Pariser Weltausstellung mit einer Silbermedaille prämiert – als Visitenkarte der Künstlerin anbot und ein gesteigertes Kaufinteresse nach sich zog. Angesichts des virtuosen technischen Könnens bescheinigten ihr Rezensionen sogar “männliches Talent” – ein heute befremdliches, aber damals größtmögliches Lob. 1891 siedelte die Malerin schließlich nach Frankfurt am Main um, traf dort auf ein liberales und an repräsentativer Kunst interessiertes Bürgertum.


Roederstein strahlt als Vorbild in vielerlei Hinsicht über ihre Zeit hinaus. Sie ging nicht nur ihren eigenen Weg und machte erfolgreich Karriere in einer männerdominierten Welt, sondern unterstützte auch andere Frauen, schuf Netzwerke oder gab Mal- und Zeichenkurse. Immer wieder drang sie in Frauen sonst verwehrte Bereiche vor, wagte sich an mythologische und biblische Motive heran, die aufgrund der geschlechterübergreifenden Aktdarstellungen eigentlich eine reine Männerdomäne waren. Allerdings widmete sich Roederstein nie der Abstraktion, blieben ihre Gemälde zeitlebens der Tradition des Naturvorbilds treu, orientierte sie sich ab Mitte der 1890er-Jahre vielmehr entsprechend dem Zeitgeist stilistisch am Vorbild der Renaissance. Neben ihrem Werkschaffen war auch ihr Leben für die damalige Zeit außergewöhnlich selbstbestimmt, arbeitete sie doch freischaffend und war finanziell unabhängig. Anfang der 1890er-Jahre lernte Roederstein zudem Elisabeth Winterhalter kennen, die später als eine der frühesten Gynäkologinnen sowie erste Chirurgin in Deutschland Karriere machte und mit der sie ihr Leben fortan gemeinsam verbrachte.
Obwohl Ottilie Roederstein zu Lebzeiten große Bekanntheit und Anerkennung genoss, geriet sie unmittelbar nach ihrem Ableben in Vergessenheit, taucht sie in keinem kunsthistorischen Kanon der Moderne mehr auf und ist ihr Name selbst Kunstinteressierten heute kaum noch ein Begriff. Das ist bezeichnend für die Repräsentanz von weiblichen künstlerischen Positionen, die es in der Historie zwar sehr wohl gab, aber die es komplett aus dem kunsthistorischen Gedächtnis verdrängt hat. Denn auch wenn Roedersteins Bilder stilistisch nicht der Avantgarde angehören, ebnete die Malerin den Weg für folgende Künstlerinnen wie Lotte Laserstein, liegt hierin ihre Modernität begründet. Letztlich beobachtete die Porträtistin mit Erschrecken den aufkeimenden Nationalsozialismus in Deutschland, pflegte bis zu ihrem Tod 1937 ungebrochen den Kontakt zu jüdischen Freundinnen und Freunden, auch wenn Sie – um weiterhin künstlerisch tätig zu sein – in die Reichskammer der bildenden Künste eintrat. In einem Brief aus dem Jahr 1934 schreibt der jüdische Künstler Ludwig Meidner: “Liebes, sehr geschätztes Frl. Roederstein, verehrte Kollegin! In den letzten zwei Jahren gingen meine Gedanken häufiger zu Ihnen, weil mir gerade auch in Ihrer Person so sehr Wesen und Art des liberalen Zeitalters, das nun leider zu Ende geht, verkörpert scheint. Sie gehören zu einem Menschentypus, der vermutlich in den nächsten Jahrzehnten gänzlich von der Bildfläche verschwinden dürfte, um einer anderen Art Mensch Platz zu machen, die eher mit dem Menschenfressertum verwandt sein wird.”1 Als Wachende in dunklen Zeiten verfolgen uns Roedersteins stahlblaue Augen, ihr stechender Blick bis in die Gegenwart hinein, scheint es, als fordere sie uns auf, für sich selbst einzustehen und mit Mut allen Widerständen zum Trotz voranzugehen.
1 Ausstellungs-Katalog Städel Museum (Hrsg.): “Frei. Schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein”, Frankfurt am Main, 2020, S. 172