Kunsthalle Münster, 2. Juli – 1. Oktober 2023
Crying in Public ist die erste Einzelausstellung des portugiesischen Künstlers Pedro Barateiro in einer deutschen Institution. Das vielfältige Schaffen Barateiros ist nicht an ein Medium gebunden. In seinen Werken – darunter Skulpturen, Zeichnungen, Filme, Texte und Performances – setzt er sich mit dem mit Informationen übersättigten Zustand der Welt auseinander und der Komplexität mit dieser Datenfülle umzugehen. Seine Werke befragen die Mechanismen und Strukturen post-kapitalistischer Gesellschaften, zentral ist dabei die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache, Bildern und Technologien. Barateiro nutzt die Poesie als Werkzeug zur Dekolonisation unserer Körper und Köpfe. Auf vielfältige Art adressiert er in seinen Werken eine Entfremdung der Gesellschaft wie auch des Individuums von sich selbst.
Sein künstlerisches Schaffen ist geprägt von einer melancholischen Sehnsucht nach einem vollkommenen Ort, an dem Gemeinsamkeit und Zuneigung unschuldig vor der Warenförmigkeit stehen. Die Ausstellung in der Kunsthalle Münster bietet die Möglichkeit der Orientierung wie der Desorientierung. Zu einem Zeitpunkt, an dem Prozesse völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten scheinen, von Orientierungs- und Hilflosigkeit geprägt sind, scheint die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir die Art und Weise ändern können, wie wir uns zueinander und zu all dem verhalten, was uns umgibt, besonders dringlich.



Für das Gefühl von Orientierung und Desorientierung ist die Werkserie der Bussola (2022) – der Kompasse bzw. Windfahnen – beispielhaft. Der Kompass ist ein Navigationsobjekt, das auf den magnetischen Eigenschaften ferromagnetischer Materialien und den Magnetfeldern der Erde basiert. Technologie erleichtert den Zugriff auf den Standort. Informationen machen uns aufmerksamer, bewusster, aber gleichzeitig kann uns die Überflutung mit Daten Angst und Verwirrung bringen. Mit den vier Himmelsrichtungen N, S, W, O wirken die Skulpturen vermeintlich vertraut. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine eigene (Un-)Ordnung. Und während “O” im Deutschen ganz selbstverständlich als Osten gelesen wird, sehen andere hier wie selbstverständlich eine Null und bewegen sich jenseits eines wohlvertrauten Systems. Die Skulpturen reflektieren eine Obsession mit dem menschlichen Verlangen nach Repräsentation, Ordnung und Systematik, die andere Perspektiven vollkommen überschattet.
Wind spielte eine bedeutende Rolle im portugiesischen Kolonialismus. Die Fähigkeit, Wind, Wasserströmungen und Navigationsinstrumente zu manipulieren brachte eine Gruppe von Wesen dazu, andere abzuschlachten, zu versklaven und zu verseuchen, um sie zu “zivilisieren”. Wie uns die Geschichte erzählt, ist dies der Beginn der modernen Globalisierung und des Kapitalismus. Das vielschichtige Interesse Barateiros für Wind zeigt sich auch in seiner Werkgruppe der Espanta-espíritos (2022/2023). Die überdimensionalen Windspiele werden sich durch die gesamte Kunsthalle ziehen; durch einen leichten Windzug in Bewegung versetzt – hervorgerufen durch die allseits geöffneten Fenster – werden sie zu Klangobjekten, stören die Atmosphäre. Wie die Zeit besitzt auch der Wind selbst keine Form, wird jedoch gefühlt und kann dadurch repräsentiert werden, dass durch ihn Dinge in Bewegung versetzt werden, er sich unmittelbar auswirkt. So erhält auch das Interesse des Künstlers an Immaterialität, für Sprache sowie gefühlte und nicht repräsentierte Dinge in der Werkreihe eine Form.
In dem Animationsfilm Monologue for a Monster (2021/2023), von dem in der Ausstellung erstmals auch eine deutsche Apaption zu sehen sein wird, wendet sich eine Figur in einem persönlichen und intimen Ton an die Betrachter:innen und offenbart die Verwandlung, die sie durchmacht. Das Monster, das eine nicht-binäre Identität besitzt, spricht über die Art und Weise, wie die Informationen, die es erfasst und verwaltet, schließlich unauslöschlich verändern, wer es ist und wie es sich zur Welt verhält. Schnell vermittelt sich der Eindruck, dass es vielmehr gemacht ist als dass es ist. Barateiro interessiert sich für die Konstruktion des Individuums durch eine erweiterte Subjektivität im neoliberalen Kapitalismus. Die Kultur des Unternehmertums, die das kapitalistische System, in dem wir leben, geprägt hat, nährt die Idee, dass das Individuum allein dafür verantwortlich ist, seinen Weg zu gehen und dabei gegen alles und jeden zu kämpfen. Es wird ein System des Wettbewerbs genährt, das nur der abstrakten Kapitalproduktion zugutekommt.
Im Zentrum der Ausstellung steht mit Love Song (2023) eine neu zu produzierende Videoinstallation. Die Arbeit hat mit der Komposition eines Soundtracks über die Idee von Fürsorge und Intimität durch die Dekonstruktion westlicher normativer Narrative begonnen. Love Song befasst sich mit Themen wie der Darstellung von Intimität menschlicher und nicht-menschlicher Körper durch die Verwendung des Wortes “Liebe”. Die Recherche für das Werk beginnt in der Zeit der Romantik, die mit dem Moment zusammenfällt, in dem sich die Industrialisierung im Westen als konkurrenzloses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell etabliert, und reicht bis in die Gegenwart. Die Arbeit stellt die binäre Formatierung westlicher Erzählungen in Frage, indem sie eine antimodernistische Alternative von Möglichkeiten der Darstellung des Körpers und nicht-heteronormativer Intimität aufzeigt. Mit der Poesie als Instrument, um die Codes der westlichen Erzählungen zu brechen, spekuliert Barateiro über die Notwendigkeit, die individuelle und kollektive Vorstellungskraft zu deprogrammieren, um neue Schaltkreise der Schöpfung und Diskussion zu generieren.
Ergänzt werden die Werke durch die Installation Bar (2023), an der lediglich Platz für eine Person ist, sowie eine Reihe von Zeichnungen. Zudem fertigt der Künstler während seines Aufenthalts in Münster die Wandmalerei Lashes (2023) an – die Wimpern führen ein Eigenleben, sie dürfen sich frei bewegen und sich umsehen. Crying in Public ermöglicht damit eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Werk und gibt einen Einblick in die vielfältige künstlerische Praxis Pedro Barateiros, der 2021 bereits mit mehreren Werken in der Gruppenausstellung Sensing Scale: Tekla Aslanishvili, Pedro Barateiro, Emma Charles, Geocinema, Bahar Noorizadeh, Wolfgang Tillmans in der Kunsthalle Münster vertreten war: https://www.kunsthallemuenster.de/de/programm/sensing-scale-tekla-aslanishvili-pedro-barateiro-e/.
Kuratorin: Merle Radtke
Biographie:
Pedro Barateiro (geb. 1979 in Almada, Portugal) arbeitet in unterschiedlichen Medien wie Skulptur, Performance, Schreiben und Zeichnung. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Dekonstruktion westlicher binärer Narrative. Er hatte Einzelausstellungen unter anderem im CRAC Alsace, dem CIAJG in Guimarães, der Kunsthalle Basel, dem Museu de Arte Contemporânea de Serralves, der Kunsthalle Lissabon, REDCAT in Los Angeles und dem Museu Coleção Berardo in Lissabon. Er nahm zudem an Gruppeausstellungen wie der 13. Sharjah Biennale, der 29. São Paulo Biennale, der 16. Biennale of Sydney und der 5. Berlin Biennale teil. Seine Performances wurden im Centre Georges Pompidou in Paris, dem IAC Lyon, der ZHdK in Zürich, dem Théâtre de la Ville, der L’école nationale supérieure des beaux-arts und der Fondation Ricard in Paris präsentiert. Regelmäßig organisiert Pedro Barateiro Veranstaltungen und Ausstellungen im Spirit Shop, einem von ihm gegründeten Kunstraum.
Programm:
2.7.2023, 12–18 Uhr, Eröffnung
2.7.2023, 15 Uhr, Performance: Pedro Barateiro, My body, this paper, this fire
Kunsthalle Münster, Hafenweg 28, 5. Stock, 48155 Münster
Öffnungszeiten: Di – So 12 – 18 Uhr
www.kunsthallemuenster.de
Pressekontakt: Artefakt Kulturkonzepte, Elisabeth Friedrich & Ursula Rüter
ursula.rueter@artefakt-berlin.de / 030 44010722
Pressedownload: Bitte hier klicken