Ralph Gibson, Secret of Light, Deichtorhallen Hamburg, Halle für aktuelle Kunst, 21. April bis 20. August 2023.
F.C. Gundlach reiste in den 1970er-Jahren als interessierter Kunstsammler nach New York und besuchte Ateliers in SoHo. Er selbst war zu dieser Zeit renommierter Modefotograf, Sammler und Kurator von viel beachteten fotografischen Ausstellungen. Wenn ihm ein Werk gefiel, zog er ein paar Einhundert-Dollar-Scheine aus seiner Tasche und kaufte es sofort. Gundlach besuchte Duane Michals, Lee Friedlander und auch Ralph Gibson, der mir diese Erinnerungen inmitten seiner aktuellen Ausstellung Secret of Light in den Hamburger Deichtorhallen erzählt, nachdem ich ihn nach Gundlachs Bedeutung für seine Fotografie gefragt habe. Gundlachs Wiederkehren in Gibsons New Yorker Studio und seine damit einhergehenden Ankäufe legten den Grundstein für eine Sammlung, die heute mit 73 Werken in der Stiftung F.C. Gundlach das größte zusammenhängende Konvolut von Gibson-Fotografien in Europa darstellt. Bereits 1981 zeigte F.C. Gundlach in seiner Hamburger PPS. Galerie eine Auswahl dieser Arbeiten. Jetzt, über vierzig Jahre später, ist dieser Komplex an Fotografien anlässlich der Ausstellung Secret of Light in der Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen Hamburg um eine umfangreiche Leihgabe des Künstlers Gibson erweitert worden. Mit über 300 Werken zeichnet die von Sabine Schnakenberg – Kuratorin der Sammlung F.C. Gundlach am Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg – zusammengestellte Schau äußerst umfangreich und präzise den künstlerischen Werdegang des Fotografen Ralph Gibson von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart nach.
Fotografie als Sprache gedacht


Ralph Gibsons Werk ist gekennzeichnet von in Zyklen organisierten Bildwelten, die sich thematisch gruppiert in der Ausstellung entfalten und die Sabine Schnakenberg in enger Abstimmung mit Gibson seit 2018 umgesetzt hat: Elf an Gibsons Frühwerk der 1960er-Jahre anschließende fotografische Reihen – darunter The Black Triology (1970–1974), Quadrants (1975–1988), Theorem (1977), Nudes (1968–2005), Black Series (1978–Mitte 1990) und Mono (2012) – werden umfänglich vorgestellt, bilden die Form der Ausstellung, die konzentriert in Gibsons Bildkonglomerate eintauchen lässt. Schnakenbergs Blick auf Gibsons Fotografien spiegelt sich in ihrer Hängung, die nicht eine fotografische Aufnahme neben der nächsten präsentiert, sondern durch mitunter wolkenartige Platzierung der Bilder an den Wänden ein assoziatives Wahrnehmen anspricht, womit Schnakenberg auf die Kompositionen von Gibsons fotografischen Werkreihen und ihr jeweiliges Sujet hinweist.
Die Ausstellung beginnt mit einer klugen kuratorischen Setzung, die Gibsons frühe seriell konzipierte Bilderzeugnisse der Street Photography mit einem aktuellen Werkzyklus des Künstlers verbindet, in dem er die Fotografie als eine Form des asemischen Schreibens begreift: als eine offene Semantik der Formen. Die Reihe Nature/Object (2015–) versammelt auf diese Weise Sichtmomente aus dem Raum der Natur: vorbeiziehende Wolken im Wind dunkler Himmelsfelder, knisternd-schmelzendes Eis auf einem geschnittenen Baum, ausfransende Lichtschatten über sich wölbenden Sandfeldern. Zwar benennt Gibson das Asemische ausdrücklich erst in Bezug zu dieser Reihe, doch bildet es im Vergleich seiner Bilder eine Kontinuität, die sich durch sein Werk zieht. In seinen frühen Fotografien, die sich durch starke Schwarz-Weiß-Kontraste und Licht-Schatten-Setzungen auszeichnen, sind es oftmals die Hände von Menschen, die singulär hervortreten oder in Verbindung mit dem eigenen Schatten(-riss) erscheinen. Sie (be-)deuten (auf) etwas, das sich außerhalb des Bildraumes ereignet. Denn Ralph Gibsons Interesse gilt weniger dem fotografischen Bild als Phänomen, sondern den Möglichkeiten, die das Medium als Sprache bietet, wie er im Rahmen des Künstlergesprächs bemerkt, das die Ausstellung begleitet: “I am interested in the language of photography, in the effect it produces.”1 So wundert es nicht, dass der Künstler, der über Jahrzehnte hinweg ausschließlich mit analoger Fotografie arbeitete, insbesondere in Schwarz-Weiß, vor einigen Jahren komplett zur digitalen Technik der Fotografie wechselte und seither mit ihrem Vielfältigkeitsspektrum operiert.
Bilder, die mit seiner Biografie verflochten sind


Ralph Gibson, 1939 in Los Angeles geboren, absolvierte 1956 eine Ausbildung zum Fotografen bei der US-amerikanischen Marine in der Naval School of Photography in Pensacola, Florida, wo er mit dem Anfertigen fotografischer Abzüge betraut wurde. In Kontakt mit dem fotografischen und filmischen Bild kam er aber bereits in den frühen 1950er-Jahren durch seinen Vater, der in Hollywood als Regieassistent tätig war, wodurch Gibson sporadisch Statisten- und Chargenrollen in Filmen bekam – unter anderem in Filmen von Alfred Hitchcock. Gibsons bildgestalterische Prägung, die auf der gezielten Setzung von Licht- und Schattenwirkung basiert, ist vor diesen Hintergründen zu sehen. Als Assistent der als Farm Security Administration-Fotografin bekannt gewordenen Dorothea Lange, für die er in den frühen 1960er-Jahren in ihrer Dunkelkammer in San Francisco Abzüge herstellte, näherte sich Gibson zunächst der Dokumentarfotografie. Im Zuge einer Auftragsarbeit durch den Grafikdesigner Roger Kennedy über den Sunset Strip in Los Angeles realisierte er 1966 seine erste Publikation The Strip. A Graphic Portrait of Sunset Boulevard. 1966 zog er nach New York, wo er kurzzeitig als Auftragsfotograf für die Agentur Magnum Photos tätig wurde. “Als Fotojournalist und Dokumentarfotograf habe ich mich immer sehr für die Gestik interessiert. Ich wollte also Gesten in Bildern einfangen”, berichtete Gibson 1980 retrospektiv im Rahmen des von der Fotografin Erika Kiffl organisierten Internationalen Fotosymposions in Düsseldorf.2 Es mag Ralph Gibsons Interesse an Gesten gewesen sein, das sich im Grunde schon in seinem Frühwerk zu erkennen gibt und das ihm den Anstoß gab, sich vollends für die künstlerische Fotografie zu entscheiden. Ausgelöst von einem Gespräch mit Dorothea Lange zu dem anhaltenden emotionalen Effekt, den ihre Bilder auf sie ausübten, sei es der Gehalt der Fotografie gewesen (“content“), dem er sich hat widmen wollen, nicht nur seiner Fähigkeit, Bilder technisch adäquat umzusetzen, erläutert der Künstler.3 Prägend hiernach war seine Begegnung mit Robert Frank in New York, für den Gibson 1968/69 als Assistent und Kameramann im Rahmen filmischer Produktionen arbeitete. Gibson kannte Franks fotografisches Werk bereits durch das Fotobuch The Americans (1958), und Franks (fotografische) Kameraführung – neben jener von Henri Cartier-Bresson – beeinflusste Gibson stark. So, wie Gibson sich für sein Umfeld interessierte, so flossen die Impulse jener Menschen, mit denen er in Verbindung stand, in sein Denken ein. Zu seinen Freunden zählten etwa die Musiker Leonard Cohen und Lou Reed, mit denen er als Gitarrist gemeinsam spielte, der Fotograf Helmut Newton oder die Autorin Marguerite Duras. “How does the mind influence the mind?”, fragt der Künstler sich in Bezug auf sein fotografisches Handeln, und fragt er auch jene, die ihm zuhören.4 Ralph Gibsons fotografische Bilder sind eng verknüpft mit den Begegnungen, die sein Leben anreicherten – es sind Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Formen, die zu einem Ausgangspunkt für seine Fotografien geworden sind: fotografische Bilder, die die Schönheit des Surrealen im Angesicht des Seins und Sehens zwischen körniger Textur und scharfkantiger Beobachtung betonen.
Point of departure
Als signifikanten Moment beschreibt Ralph Gibson außerdem ein Gespräch, das er mit Dorothea Lange führte, in dem sie ihn auf den notwendigen “point of departure” für das Herausbilden seiner fotografischen Sprache hinwies.5 1970 begann Gibson, selbst Fotobücher herzustellen und diese in dem von ihm gegründeten Verlag Lustrum Press zu veröffentlichen: The Somnambulist (1970), Deja-Vu (1972) und Days at Sea (1974), die Gibson unter dem Titel The Black Triology subsummiert. Es ist die Reihe The Somnambulist, mit der Gibson die Frage nach dem Ausgangspunkt in sein Handeln integriert und durch die (auch in Erweiterung der beiden folgenden Reihen) Gibson innerhalb kürzester Zeit internationale Bekanntheit erlangte. Die fotografischen Inhalte dieser drei Bücher bilden den Kern in der Hamburger Ausstellung und fächern sich durch assoziative Hängung der Bilder im Gefüge ihrer jeweiligen Werkgruppe auf. Realität, Traum und Unterbewusstes zwischen Erinnerung, Fantasie und Fetisch werden in der Black Triology zu Motiven, die sich in einer surrealen Melange verdichten. Gibsons Blick greift das Abstrakte in den Dingen auf, erzeugt einen mentalen Raum, der sich von der Fotografie löst und sich zwischen den Bildern entfaltet, die mitunter als Bildpaare konzipiert sind.
“Ich wollte in meine Bilder die subjektive Erfahrung des Sehens einbringen […] und ich habe in vielen Aufnahmen meine Hand mitfotografiert, um mich selbst mit einzubringen.”6 Dies sieht man etwa wie bei der ikonischen Fotografie mit der Fotografin Mary Allen Mark, die er 1967 in New York kennenlernte und deren Hand er aus der Pose seines Fotografierens in The Somnambulist berührt. Oder eine Hand, die, mit Füllfederhalter ausgestattet, andeutet, in den Himmel über einer Dünenlandschaft zu schreiben. In der Zeit, in der Ralph Gibson an The Somnambulist arbeitete, begleitete ihn die Literatur von Jorge Luis Borgés und Alain Robbe-Grillet, die Musik von Heitor Villa-Lobos sowie sein eigenes Gitarrenspiel – das er ebenfalls im Rahmen einer Musikperformance während der Ausstellungseröffnung in den Deichtorhallen erklingen ließ. Ralph Gibson bewegt sich seit mehreren Jahrzehnten zwischen den Künsten – eine Essenz, die sein Werk so faszinierend macht. “Ich verwende Fotografie, weil sie mir Dinge zeigt, die ich auf eine andere Weise nie sehen kann”,7 [ii] bemerkte Gibson 1980. Etwa einen rauchenden Mann, der in einer weißen Dunstwolke wie in den Wolken verschwindet. Oder eine Wolke, die dem wehenden Haar einer Frau in Rückansicht gleicht. Oder aber das Kinn, den Kragen und die Kutte eines Geistlichen. Es sind ins Bild gefasste Ausschnitte, die das Potenzial der Fotografie und der Arbeit mit Licht offenbaren. Die Hamburger Ausstellung ermöglicht es, Ralph Gibsons Werk in seinen vielseitigen Facetten neu zu entdecken und in sein Sehen einzutauchen, dem F.C. Gundlach vorausschauend im New York der 1970er-Jahre begegnet war.
1 Künstlergespräch mit Ralph Gibson, Deichtorhallen Hamburg, 21.04.2023, https://www.deichtorhallen.de/ausstellung/ralph-gibson, Timecode (TC) 56:44–57:03, zuletzt aufgerufen am 17.05.2023.
2 Ralph Gibson in: Internationales Fotosymposion 1980 Schloß Mickeln bei Düsseldorf – Neue Wege in der Fotografie. Referate. Diskussionen, Interviews, Bildbeispiele. Mit Beiträgen von Ute Eskildsen, Verena von Gagern, André Gelpke, Ralph Gibson, Jörg Krichbaum und Pier Paolo Preti, Mahnert-Lueg Verlag, München 1980, S. 24.
3 Vgl. Künstlergespräch mit Ralph Gibson, https://www.deichtorhallen.de/ausstellung/ralph-gibson, TC 34:77–36:40, zuletzt aufgerufen am 17.05.2023. Gibson erzählt dies im Zusammenhang seiner Erfahrung mit Dorothea Lange und dem emotionalen Effekt, den ihre sozialdokumentarischen Fotografien auf sie selbst nach Jahrzehnten ausübten und den Gibson mit dem Begriff “content” fasst.
4 Künstlergespräch mit Ralph Gibson, https://www.deichtorhallen.de/ausstellung/ralph-gibson, TC 1:23:03–1:23:07, zuletzt aufgerufen am 17.05.2023.
5 Künstlergespräch mit Ralph Gibson, https://www.deichtorhallen.de/ausstellung/ralph-gibson, TC 1:10:06–1:11:12, zuletzt aufgerufen am 17.05.2023.
6 Neue Wege in der Fotografie, S. 25.
7 Ebd., S. 27.