“William Eggleston – Mystery of the Ordinary”, C/O Berlin, 28.1. bis 4.5.2023.
Licht brennt sich in rot leuchtende Reklame an einer weißen Hausdachkante vor tagblauem Himmel ein, sammelt sich an einem Nachmittag in einem eisgekühlten Getränk, das im Glas in Amber leuchtet und auf den Tisch abstrahlt, legt sich als golden anschmiegender Sonnenuntergang auf dem Asphalt ab, schimmert als blaue Dämmerstunde an der Oberfläche einer metallic glänzenden Motorhaube, versinkt im Schatten an einer Hauswand, die am Ende eines Tages das elektrische Glimmen einer Stadt verschluckt.
Die fotografischen Bilder von William Eggleston sind Sammlungen des Nebensächlichen. Sie zeigen Momente, die sich aus den eigenen Bewegungsabläufen des 1939 in Memphis, Tennessee geborenen Künstlers, der noch heute dort lebt, herauskristallisiert haben: Situatives, das seine Augen durchstreifte, seine Aufmerksamkeit erregte und das sich auf dem Film seiner Kamera zu einem Bild manifestiert hat. Bekannt geworden ist Eggleston dadurch, dass er bereits in den 1960er-Jahren auf Farbfilm fotografierte – zu einer Zeit, in der sich dieses Medium primär in der Werbefotografie etabliert hatte. Durch seinen zunehmenden Fokus auf die farbliche Authentizität eines fotografischen Bildes gilt William Eggleston auch als früher Vertreter der “New Color Photography”. Sie bildet den thematischen Hintergrund der umfangreichen Retrospektive und Überblicksausstellung des US-amerikanischen Künstlers, die bei C/O Berlin im ehemaligen Amerika-Hausgezeigt wird. Hierbei wird deutlich, wie sehr Egglestons Kompositionen, die bereits in seiner Schwarz-Weiß-Fotografie angelegt gewesen sind, wie etwa die in der Ausstellung gezeigten Silbergelatine-Abzüge aus den Jahren 1963 bis 1968 zu erkennen geben, durch die Verwendung von Farbfilm zu Ikonen der künstlerischen Farbfotografie geworden sind.


Intensität der Effekte und Affekte
Der Entstehungszusammenhang von William Egglestons Fotografien lässt sich in etwa so vorstellen: Blicke fallen in einem Amerika der 1960er- und 1970er-Jahre durch die Windschutzscheibe fahrender Autos, führen über sich lang erstreckende Straßenverläufe durch weite Landschaften, biegen an einem innerstädtischen gemauerten Häuserblock an einer mit Pfeilen markierten Kreuzung ab, münden in die ausgepolsterten Innenräume von Fahrzeugen ein oder schweifen aus einem Diner über den Tisch mit Salz- und Pfefferstreuern über die Spiegelungen der Glasfassade auf ein Geschehen, das sich im Außenraum abspielt. Egglestons Bilder speisen sich aus einer Intensität der Effekte und Affekte, die ihm sein alltägliches Lebensumfeld in einem motorisierten Amerika zwischen Versorgungsstätten, urbanen Strukturen und landschaftlicher Weite über Jahrzehnte hinweg entgegengehalten hat. Doch wird in den mittel- bis großformatigen fotografischen Abzügen deutlich, dass es sich bei seinen Bildern nie um das Dokumentieren einer Situation handelt, sondern dass er seinen Fotografien etwas Dialogisches einschreibt, das sich zwischen Fotografiertem, Bild und Fotograf ereignet.
So wird in dem Porträt eines auf Einkaufswagen gestützten jungen Mannes im Sonnenuntergang der bei C/O Berlin gezeigten “Los Alamos”-Werkgruppe (1965 bis 1974) deutlich, dass für Eggleston, der zumeist nur bei natürlicher Beleuchtung fotografierte, auch der Schatten des von ihm “Beleuchteten” wesentlich für seine fotografische Aufnahme ist. Der Schatten zeichnet sich in diesem Beispiel an der Fassade eines Gebäudes ab – und darüber hinaus erkennt man, dass auch Egglestons eigener Schattenwurf zu einem Bestandteil des Bildes wird. In Lichtschatten im Allgemeinen, in Spiegelungen des Umraums oder eines Gegenübers in zum Beispiel Wasserpfützen oder in der Wiederholung von Bildmomenten in reflektierenden Oberflächen wie auf dem Lack der Motorhaube eines Autos lässt sich erkennen, dass Egglestons fotografische Bilder sich als etwas Kommunikatives vergegenwärtigen und wirken, ja, dass sie einen situativen Erfahrungsraum im Bild festhalten und zugleich erschaffen: Egglestons Aufnahmen kreisen etwas ein, das über das Medium hinausreicht und sich der zwischenmenschlichen Handlung zuwendet. Weniger sprechen seine Bilder (die) Fotografie als solche an, sondern das Sehen – und zu welchem technischen Erfassen des Sehens das Medium den Fotografen befähigt.
Deutlich wird dies bereits mit Egglestons im Stil eines Fotoalbums angelegter Publikation “William Eggleston’s Guide”. Sie erschien 1976 im Zuge seiner Einzelausstellung im “Museum of Modern Art” in New York, die durch John Szarkowski unter dem Titel “Photographs by William Eggleston” präsentiert wurde – als dort überhaupt erste Ausstellung von Farbfotografie.1 Das Betrachten von Egglestons “Guide” legt nahe, mit dem Sehen des Künstlers auf Wanderschaft zu gehen, und provozierte seinerzeit ein Schauen auf das Beiläufige, das zu einer völlig neuen, fotografischen Bildsprache des en passant Gefundenen führen sollte. “Photography just gets us out of the house”, lautet ein Zitat von William Eggleston direkt zu Beginn der Ausstellung, das seine Auffassung vom Entdecken von Bildern – gleich wo – nahelegt und unterstreicht.
Demokratisierung Bild um Bild
Ein solches Herausheben des Beiläufigen und Situativen ist durch soziale Medien wie Instagram nahezu inflationär zum Gegenstand fotografisch erzeugter Bilder geworden. Wenn John Szarkowski 1976 in seinem Vorwort zu William Egglestons “Guide” schreibt, “[t]he world now contains more photographs than bricks, and they are, astonishingly, all different”2, so hat sich diese Einschätzung in zeitgenössischen Bildsystemen ins Unzählbare hinein vervielfacht. Die Fülle möglicher Bilder war auch für Eggleston ein entscheidender Topos. So fotografierte er ein Motiv selten mehr als einmal, wie er 2007 in einem die Ausstellung begleitenden Film von Reiner Holzemer bemerkte.3 “I don’t have favorites”, lautet entsprechend ein weiteres der an die Wand gebrachten Zitate des Künstlers innerhalb der Ausstellung, in dem er fortfährt: “I look at pictures democratically. To me they are all equal.”
Eggleston verzichtete schon zu Beginn seiner als Autodidakt aufgenommenen Tätigkeit des Fotografierens – mit wenigen Ausnahmen – bewusst auf die Angabe von Orten und Jahren, gänzlich aber auf Titel, um die Bilder als solche erfahrbar werden zu lassen. Darauf weist auch Holzemers Dokumentarfilm hin, der in einem Kabinett im Obergeschoss gezeigt wird.4 Hiervon ausgehend, zeichnet sich im Ausstellungshaus eine Atmosphäre eher flanierender Besucher:innen ab, die entlang der bei C/O Berlin gehängten Werke erst gar keine Angaben zu einzelnen Werken suchen, sondern sich nahezu befreit von kontextuellen Narrativen vorrangig von den Bildern durch die Ausstellung leiten lassen. Von seinem Frühwerk in Schwarz-Weiß führt diese entlang erster Fotografien auf Farbfilm, die in Egglestons Lebensumfeld des amerikanischen Südens entstanden, hin zu der 1965 bis 1974 gefertigten Werkgruppe “Los Alamos”, die als eines seiner Hauptwerke angesehen werden kann: Benannt nach jenem Ort, der als das amerikanische Laboratorium zur Atombombenforschung in New Mexico bekannt geworden ist, vereint die Gruppe jedoch Fotografien, die bei den Reisen des Künstlers quer durch die Vereinigten Staaten entstanden sind. Außer Egglestons zwischen den ausgestellten Bildern angebrachten Zitaten, wie “I take a picture very quickly and instantly forget about it”, begleiten Vitrinen mit Publikationen und Veröffentlichungen seiner Farbfotografien in internationalen Zeitschriften die Exponate und geben in Ergänzung zu den zuweilen etwas zu assoziativ formulierten Wandtexten die Möglichkeit zu einem Einblick in die Vielseitigkeit seines künstlerischen Werkes.
Ein weiteres Kapitel der Ausstellung zeigt hieran anschließend mit “The Outlands” Auszüge der 1969 bis 1974 von Eggleston aufgenommenen Kodachrome-Farbdias, die sein Lebensumfeld des alten Mississippi umspannen und die für diese Präsentation erstmals als Inkjet-Drucke in Großformaten produziert wurden. Die Schau endet mit einigen wenigen Bildern von Egglestons Berlin-Besuchen zwischen 1981 und 1988, in deren Rahmen er auch an der von Michael Schmidt gegründeten “Werkstatt für Photographie” in Berlin-Kreuzberg (1976–1986) unterrichtete und mit seiner Farbfotografie zum Fotodiskurs beitrug. Von Berlin aus unternahm er in dieser Zeit Reisen durch Europa, von denen stellvertretend die Außenansicht eines Wiener Kinos die Retrospektive und William Egglestons intensive Farbwelt abrupt beendet.
Dinge ein Mysterium sein lassen
Was William Egglestons Fotografien wie jene der “Los Alamos”-Gruppe so besonders macht, findet in der Berliner Ausstellung nur marginal Erwähnung, ist aber ein wesentliches Kompositionselement seiner Bilder: Unter Verwendung des “Dye-Transfer”-Druckverfahrens, bei dem der Farbdruck in einzelne Komponenten unterteilt wird und so Cyan, Magenta und Gelb nacheinander gedruckt werden, war es dem Künstler möglich, seine fotografischen Bilder in höchster Qualität zu produzieren. Diese spezielle, zumeist per Hand umgesetzte Drucktechnik war in den 1920er-Jahren entwickelt worden. Sie erlaubt es, einzelne Farben gezielt zu verstärken und durch hohe Farbsättigung zu intensiver Leuchtkraft zu bringen. Sie unterstützt Egglestons farbliche Gegenüberstellungen, wenn er bei der fotografischen Aufnahme des Bildes Komplementärkontraste wie Orange und Blau oder Rot und Grün als konstitutive Kompositionselemente des Bildes heranzieht. Gerade weil diese Technik seine Bilder zu unverwechselbaren fotografischen Kunstobjekten hat werden lassen, in denen Farbe und Form als einander bedingende Elemente den Bildkörper und damit Egglestons Motive herausformen, wäre es interessant gewesen, mehr über Egglestons Umgang mit dieser Technik und über ihre Bedeutung für sein Hauptwerk zu erfahren.
Was beim Verlassen der von Felix Hoffmann kuratierten Ausstellung nach fast dreistündigem Besuch verbleibt, ist ein Getragen-Sein ob der Klarheit und Strahlkraft der Bilder William Egglestons, das ich ähnlich schon erfahren hatte, als ich 2008 Egglestons Retrospektive im New Yorker Whitney Museum of American Art sah, die Thomas Weski kuratiert hatte. Weski seinerseits hat im – zeitweise vergriffenen – Katalog zur Berliner Ausstellung über den Künstler geschrieben. So schließen sich Kreise wie die Ränder der Gefäße, die die Tischfläche eines amerikanischen Restaurants zu einer Spielfläche aus Erzähltem und Vorgestelltem werden lassen. Es ist das Bild, mit dem “William Eggleston – Mystery of the Ordinary” beginnt und in eine großartige Ausstellung entführt.
1 Vgl. C/O Berlin Nr. 33, 13. Jahrgang, Berlin 2023, S. 8.
2 John Szarkowski, in: William Eggleston’s Guide, The Museum of Modern Art, New York 2021, S. 6.
3 William Eggleston – Fotograf (D 2007, R: Reiner Holzemer), Dokumentarfilm, 26 min., https://www.reinerholzemer.com/william-eggleston-photographer?lang=de, zuletzt aufgerufen am 20.02.2023.
4 Ebd.