VALIE EXPORT, Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me, 2023. Installationsansicht Erdgeschoss Kunsthaus Bregenz, Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist, © Kunsthaus Bregenz, VALIE EXPORT / Bildrecht, Wien 2023.

“Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me”

VALIE EXPORT präsentiert im Kunsthaus Bregenz eine Tonskulptur zur Kriegsangst.

Sie ist eine quicklebendige Legende: VALIE EXPORT, vor 82 Jahren als Waltraud Lehner in Linz geboren, mit bürgerlichem Namen Waltraud Stockinger. Zu ihrem selbstbewusst in Versalien geschriebenen Künstlernamen inspirierte sie 1970 der Blick auf eine Zigarettenpackung der Marke “Smart Export” mit dem Slogan “semper et ubique – immer und überall”. “Da wusste ich, dass mein Gesicht auf die dort abgebildete Weltkugel sollte”, erinnert sich Österreichs berühmteste Aktions- und Medienkünstlerin. Während die collagierte Zigarettenpackung inzwischen in Besitz des New Yorker Museum of Modern Art ist, gab deren Urheberin vor sechs Jahren ihr umfangreiches Archiv in die Linzer Tabakfabrik, die damit zum VALIE EXPORT Center Linz wurde.

Ihre spektakulärsten Aktionen verbinden sich mit den wilden Jahren 1968/69: Mit ihrem damaligen Lebensgefährten, dem kürzlich verstorbenen Konzeptkünstler und Vordenker Peter Weibel, ging VALIE EXPORT auf Wiens Flaniermeile Kärntnerstraße Gassi. Weibel lief dabei an ihrer Leine auf allen vieren. “Aus der Mappe der Hundigkeit” betitelte sie den aufsehenerregenden antipatriarchalen Spaziergang, der die gefürchtete österreichische Boulevardpresse zum Schäumen brachte. Mit einem “Tapp- und Tastkino”, bestehend aus einem Karton mit zwei handgroßen Löchern, den sie sich vor den blanken Busen montiert hatte, provozierte VALIE EXPORT Passanten und Kinobesucher, indem sie sie dazu einlud, sie 33 Sekunden lang zu berühren. Oder sie setzte sich für die Performance “Aktionshose Genitalpanik” mit im Schritt aufgeschlitzten Jeans und einem Gewehr in der Hand in ein Münchner Rotlicht-Kino, bis das Publikum vor so viel offensiver bis skandalöser Weiblichkeit Reißaus nahm.

Ein Avantgardist an VALIES Hundeleine

Seitdem bestimmt die Trias “Körper, Konzept, Medien” VALIE EXPORTs Schaffen. So auch aktuell im Kunsthaus Bregenz: Mit diesem direkt am Bodensee gelegenen Bauwerk ist dem Schweizer Architekten Peter Zumthor vor einem Vierteljahrhundert ein Meisterwerk der Osmose geglückt, einer Osmose zwischen den Elementen Luft und Wasser und dem berühmten Kubus aus Beton und Glas. Selbst an diesem trüben Märztag transportieren die 712 halb durchsichtigen Glasplatten der Außenwände, die wie Schuppen angeordnet sind, sanft bewegtes Seelicht ins Innere. Dadurch erscheinen VALIE EXPORTs Orgelpfeifen auf den ersten Blick wie metallenes Schilfrohr. Das Gros der Pfeifen hängt von der Decke herab und spiegelt sich im glänzend anthrazitgrauen Terrazzoboden, der seinerseits wie ein dunkler Teich wirkt. Einige eckige Orgelpfeifen aus Holz hängen als Ensemble an der Wand, an die Arte Povera der 1960er-Jahre erinnernd. Fünf kurze, knapp kniehohe Pfeifen aus Blei hat die Künstlerin mit einer Schnur zu einem schüchternen Grüppchen zusammengebunden, andere zu einem ebenso imposanten wie alarmierenden Anklang an die Stalinorgel des Zweiten Weltkriegs zusammengefügt. Ein besonderes Exemplar hat einen Ehrenplatz an der glatten Betonwand erhalten: Im Pfeifenkörper steckt ein jahrhundertealtes Notenblatt mit der Aufschrift “Dona nobis pacem” (“Gib uns Frieden“), das erst bei der Zerlegung der Orgel entdeckt wurde.

Raketenregen oder Dornenwald

Beim Rundgang unter den hängenden Metallspitzen stellt sich unwillkürlich ein Gefühl der Bedrohung ein. Vor dem inneren Auge tauchen die täglichen Schreckensbilder aus der von Russland bombardierten Ukraine auf. Man fühlt sich einem Raketenregen ausgesetzt oder nach biblischer Lesart einem Dornenwald, wie ihn Maria durchschritt. Schließlich transportierte VALIE EXPORT vor Jahren insgesamt 120 Orgelpfeifen aus der Linzer Wallfahrtskirche zu den Sieben Schmerzen Mariae in ihr Wiener Atelier, wie sie erzählt. Sie hatte in der Kirche auf dem Pöstlingberg die Ornamentik der Flügelblätter neu gestaltet. An der Balustrade brachte sie das Spruchband “Wer begreift, hat Flügel” an. Dazu erklärt die an diesem Tag in Dottergelb gewandete feministische Vorkämpferin mit einem entwaffnenden Lächeln: “Wir Frauen haben Flügel, wir wissen alles.”

Österreichs Grande Dame der Avantgarde-Kunst erinnert sich noch gut an die Orgelkonzerte mit Frauenchor, die sie als Kind in der Pöstlingbergkirche verzückten: “Ich kam mir beim Hören so groß wie der Kirchenraum vor.” Damals habe sie sich in das Instrument mit seiner Analogie zur menschlichen Stimme verliebt (so spricht man ja auch bei Orgelpfeifen von Lippen), aber ebenso “in das Überbordende des Barock Maria zu Ehren”.

Von der Kubakrise zum Ukrainekrieg

Im Januar trafen sich VALIE EXPORT und der Leiter des Kunsthauses Bregenz, Thomas D. Trummer, im Wiener Café Tirolerhof. Als sie ihm von ihren “eroberten Orgelpfeifen” erzählte, entstand die gemeinsame Idee einer Tonskulptur zum Thema Kriegsangst. “Die Zeit sprach drastisch dafür, diese Ausstellung schnell zu machen”, so Trummer, der erklärtermaßen Kunst zeigen will, die die Fragen der Gegenwart beantwortet. Und deshalb schließt das Kunsthaus nicht während der sechs Wochen, in denen die gesamte Beleuchtung durch energiesparende LED-Lichteinsätze modernisiert wird, so wie es die meisten anderen Museen täten. Stattdessen lädt man zu Diskursen zu den basalen Begriffen Mut, Angst, Armut und Frieden ein – und zeigt im Erdgeschoss VALIE EXPORTs Installation “Oh Lord, Don’t Let Them Throw That Atomic Bomb on Me”, die mit gleichem Recht eine Tonskulptur genannt werden kann: Aus acht Lautsprechern, die am Fenster zu einer strengen Phalanx aufgereiht sind, umströmt die Besucherinnen und Besucher eine Klangwolke. Orgeltöne sind zu hören, geblasen oder auf das Metall gehämmert, konterkariert und ergänzt durch volltönenden Rhythm and Blues: In einer Endlosschleife läuft Charles Mingus’ berühmter Antikriegs-Song aus dem Jahr 1961″Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me”. Allerdings in einer Neuinterpretation des Sängers George Nussbaumer, der das Lied mit der siebenköpfigen Band von Peter Madsen einspielte – Madsen war früher Bandmitglied von Charles Mingus. Die sieben Musiker sind es auch, die EXPORTs Orgelpfeifen alle nur möglichen Töne entlocken.

VALIE EXPORT hat Mingus’ Lied mit seiner einzigen und deshalb umso eindringlicheren Textzeile schon immer beeindruckt, erzählt sie: “Wahrscheinlich habe ich es zum ersten Mal als Teenager im Amerika-Haus in Linz gehört.” Mingus’ Song ging ihr nicht aus dem Kopf. Erstmals verwendete sie ihn im historischen Jahr 1989, als sich die Hoffnung auf ein Ende des Ost-West-Konflikts konkretisierte, in ihrem Dokumentarfilm “Aktionskunst International. Dokumente zum Internationalen Aktionismus”. Von der Kubakrise Anfang der 60er-Jahre, in der die Welt erstmals vor der Gefahr eines Atomkriegs stand, zieht sie eine Parallele zur heutigen Situation: “Der Song wurde damals für die Angst vor der Atombombe während des Kalten Krieges geschrieben, und jetzt springt er direkt in die jetzige Angst.”

Frauen beim Bügeln

Nur eines bereut VALIE EXPORT mittlerweile: dass sie zu den Erstunterzeichner*innen des “Manifests für den Frieden” ihrer alten Freundin Alice Schwarzer gehört. Sofort danach sei sie wegen der Reaktionen irritiert gewesen und wolle nun keine Aufrufe dieser Art mehr unterzeichnen. Damit sei alles gesagt, so VALIE EXPORT energisch, umgeben von schwarz lackierten Gesetzbüchern am Boden und einem weißen Quader, der in gefährlicher Schieflage gegen ein Plumeau an der Wand lehnt. Es handelt sich um hintersinnige Installationen der Vorarlbergerin Christine Lederer, Jahrgang 1976. Sie gilt als EXPORT-Schülerin, nicht zuletzt, weil sie ebenfalls mit konsequentem Körpereinsatz im Dienst des Feminismus operiert, etwa bei ihrem Werk “Am liebsten trage ich ein Bügelbrett”, bei dem sie nackt hinter einem Bügelbrett mit einem türkis-weißem Streifenbezug steht. “Humor schafft einen Zugang zu Leichtigkeit und zum Wesen des Menschen. Er wird aufnahmefähiger und kann berührt werden”, ist Christine Lederer überzeugt. Im ersten Stock des Kunsthauses Bregenz stellt sie mit “reiß  dein Maul auf”, einer Kombination aus mobilem Studio und performativem Akt, ähnlich produktiv irritierende Fragen wie im Parterre die Meisterin. Nicht zuletzt ihr zutiefst österreichischer Humor des Wörtlichnehmens verbindet die beiden.

VALIE EXPORT: Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me. Kunsthaus Bregenz, bis 10. April 2023 (kunsthaus-bregenz.at).