“Chargesheimer The Great”, Galerie Julian Sander, Köln, 10.2. bis 6.4.2023.
Kurz gesagt: Der Ausstellung “Chargesheimer The Great” in der Kölner Galerie Julian Sander wohnt etwas sehr Persönliches inne. Dies hängt auf den ersten Blick damit zusammen, dass die ausgestellten Werke fast wie beiläufig in den Galerieräumen arrangiert wirken. Ein in starken Schwarz-Weiß-Kontrasten entwickeltes fotografisches Porträt von Louis Armstrong (1961) flankiert eine Sitzgruppe mit Blumenstrauß im Eingangsbereich, von wo aus mein Augenpaar auf ein in sich rotierendes kinetisches Objekt fällt. Neben einem Flügel hängen in luftiger Folge fotografische Bildnisse in starker Nahsicht von Chet Baker (1961), Jean Paul Belmondo (1956) und Konrad Adenauer (1956), als gehörten sie zum engeren Bekanntenkreis. Die Hauptwand des Raumes präsentiert Lichtgrafiken und Chemogramme des Künstlers, die gänzlich ohne Kamera entstanden sind und die malerische Kompositionen und Kristallisationen von Chemikalien auf Fotopapier entdecken lassen. Eine davon erstrahlt vielfarbig auf einem Glasträger, ist mit einer sanft leuchtenden Lichtplatte hinterlegt, um den Kosmos des Bildes zu vertiefen. Es ist in dieser Stille der Situation, während im Hintergrund gleichförmig die Rotationsmotoren der sogenannten “Meditationsmühle” (1968) erklingen, ein wenig so, als warteten die Galeriebesucher:innen einschließlich mir auf eine Gesellschaft – die sich sodann in einer Folge von sozialreportagehaften Fotografien entfaltet, über die mir Chargesheimers Werk bislang vor allem bekannt gewesen ist.



Bilder aus dem Austausch mit Gerd Sander
Chargesheimer, 1924 unter dem Namen Karl Heinz Hargesheimer in Köln geboren, gestaltete ein vielseitig künstlerisches Leben als Fotograf, Bühnenbildner, Regisseur, Schauspieler, Bildhauer, Maler und Lichtkinetiker. Diese mediale Vielseitigkeit des Künstlers zu vergegenwärtigen ist ein Anliegen der Galerie Julian Sander, wie es auch bereits ein Anliegen für den Vater Gerd Sander gewesen sein mag, aus dessen Nachlassbeständen die hier gezeigten Werke hervorgehen. Es sind die interessierten Augen des Fotografen und werdenden Kunsthändlers Gerhard Sander mit ihrem freundschaftlich wertschätzenden Blick, die hinter einem seiner kinetischen Objekte hervorschauen, als Chargesheimer das Porträt 1966/68 aufnahm. Das fotografische Bild hängt im Ausstellungsraum an der schmalen Fläche eines Wandvorsprungs, der gerade mal so breit ist wie das Bild selbst. Es markiert den Übergang zu Chargesheimers sozialdokumentarischem fotografischen Œuvre, mit dem er in Köln und weit darüber hinaus bekannt geworden ist. So sind in der Galerie infolgedessen solche Schwarz-Weiß-Fotografien in einer auf Augenhöhe gehängten Reihe zu sehen, die mitunter aus Chargesheimers Publikationen bekannt sind und das alte Köln der 1950er-Jahre zeigen: trinkende und tanzende Paare, verkleidete und zuprostende Menschen, Jecken zu Karneval, Bierschaum am Glas, ein durch Glühbirnen erleuchtetes Köln bei Nacht, ein situatives Bildnis von Heinrich Böll an einem gemauerten Hausvorsprung beim Trinken, gefolgt von Straßenzügen mit Kneipen des Köln aus dem Jahr 1970. Die gerahmten fotografischen Abzüge wie auch einige sehr frühe Lichtgrafiken aus den Jahren 1949 und 1950 weisen durch Notizspuren, die von der Bildrückseite durchscheinen, oder durch die Patina auf der Bildoberfläche darauf hin, dass diese Bilder schon eine längere Geschichte in sich tragen – durch Handreichung in Hände gingen, die sich vermutlich durch den Austausch über Kunst und Fotografie miteinander verbunden haben.
Von Menschen, Städten und Mysterien
Nach seinem Studium der Grafik und Fotografie an den Kölner Werkschulen war Chargesheimer in den späten 1940er-Jahren zunächst als Bühnenfotograf tätig, dokumentierte die Kölner Ruinen der Nachkriegszeit und ging in den 1950er-Jahren zur Werbefotografie in Düsseldorf über, wo er an der “Bild und Klang Schule” (BiKla) als Dozent für Fotografie unterrichtete. Vor diesem Hintergrund sind seine zahlreichen Veröffentlichungen von Fotobildbänden zwischen 1957 und 1970 zu sehen, darunter “Cologne intime” (1957), “Unter Krahnenbäumen” (1958), “Im Ruhrgebiet” (1958) oder “Menschen am Rhein” (1960) – die letzten drei mit begleitenden Worten von Heinrich Böll, der Wertesysteme einer kaum mehr greifbaren Zeit, von denen diese fotografischen Genreansichten zu erzählen suchten, in Sprache kleidete. Chargesheimer fotografierte Menschen in ihrem alltäglichen Lebensumfeld in Köln, so auf der “UKB” (Unter Krahnenbäumen), einer der ältesten Straßen der Stadt: “die Kinder und die Alten, die Verliebten und die Einsamen.”1
Er bewegte sich zu den Zechen im nahegelegenen Ruhrgebiet, fotografierte Kohle in Gelsenkirchen oder Stahl in Essen. Ein “Herumschauer”2, wie ihn Karl Pawek bezeichnete, der sich auch fotografisch künstlerischen Entwicklungen widmete, wie seine Publikationen “Beispiele moderner Plastiken aus dem Kunstbesitz der Stadt Marl” (1960), “Wuppertal. Bilder. Botschaften. Bemerkungen” (1969) oder “Theater, Theater” (1967) mit einem Text von Martin Walser zeigen. “[E]r interessiert sich für das Theater, das die Welt spielt, und für die bildhaften Werte auf dieser Weltbühne”, konstatiert Pawek 1961.3 Chargesheimer wurde so in den 1960er-Jahren selbst als Bühnenbildner und Regisseur am Theater tätig, unter anderem in Köln, Hamburg, Kassel und Braunschweig.
“Er war einer der vielseitigsten und bemerkenswertesten deutschen Fotografen der 1950er- bis Ende der 1960er-Jahre”4, bemerkt Stefanie Grebe rückblickend im Zusammenhang von Chargesheimers Ruhrgebietsfotografien und der Aufarbeitung der Bedeutung seines fotografischen Werkes. 1968 erhielt Chargesheimer den “Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie”. 1978 erwarb das Museum Ludwig Köln umfangreiche fotografische Bestände einschließlich Chargesheimers Negativarchiv, das zum Rheinischen Bildarchiv Köln5 zählt und in Anbetracht der Facettenhaftigkeit seines Werkes viel Raum für weitere Forschungen eröffnet und nahelegt.



Lightgraphic. Rechts: Kälte (Lichtgrafik,’), 1949, 39 x 72 cm, Photogram.
Mediation und Meditation
Die Galerie Julian Sander konzentriert sich schon seit einigen Jahren auf die Bekanntmachung der Vielseitigkeit des Werkes von Chargesheimer. So gab die Galerie anlässlich der Messe Paris Photo 2018 eine Zeitung mit dem provokanten Titel “Chargesheimer Not A Photographer”6 heraus, die den Charakter eines multimedial interessierten Künstlers nachzuzeichnen sucht und die nun auch in der aktuellen Ausstellung ausliegt. Dabei gibt ein zwischen Gerd und Julian Sander geführtes Interview zu dem fotografischen Werk des Künstlers Einblicke, wie Chargesheimer sich der Technik der Lichtgrafik annäherte, gespeist von Anekdoten ihrer Zusammenarbeit, Freundschaft und Begeisterung für das Medium Fotografie in einem Köln, das sie in den 1950er- und 1960er-Jahren gemeinsam erlebten. Die Zeitung legt einen weiteren Schwerpunkt auf Chargesheimers kinetische Objekte, die er in den 1960er-Jahren unter dem Titel “Meditationsmühlen” anfertigte – so wie jenes Objekt, das in der Ausstellung präsentiert wird: ein aus Acrlyglas gefertigter Kugelkörper, der wie ein gläserner Planet wirkt, in dem sich durch Motoren betriebene, reflektierende Stahl- und Acryl-Scheiben bewegen, die wiederum durch äußere Lichteinstrahlung (oder durch eingesetztes Licht) über prismatische Spiegelungen apokalyptische Landschaften herausbilden. Nach einer Präsentation im Kunstpavillon Soest 1969 waren sie 1970 im Wuppertaler Von der Heydt-Museum gezeigt worden, bevor sie 1971 im Kölnischen Kunstverein zu sehen waren und Chargesheimer für seine Objekte den “Karl Ernst Osthaus-Preis” erhielt. Ein neues Kapitel seiner Arbeit schien zu beginnen. Noch im selben Jahr nahm Chargesheimer sich im Alter von 46 Jahren das Leben.
Sich die Welt zeigen lassen
Je mehr Bilder und Facetten von Chargesheimer sichtbar werden, so bekräftigt diese Ausstellung, desto faszinierender ist die Auseinandersetzung mit seinem Werk. “Aus allem, was über ihn bekannt ist”, bilanzierte Stefanie Grebe im Jahr 2014 im Kontext seiner letzten großen institutionellen Ausstellung (“Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets”), “lässt sich vermuten, dass er eher manisch und rauschhaft, unbeeinflusst von anderen, seinen eigenen Stil entwickelt hat.”7
Chargesheimer wechselte die künstlerischen Instrumente, komponierte in einer Sphäre, in der Gesichter als Landschaften erzählen und von Menschen geschaffene Landschaften von Persönlichem berichten. Er schaffte (foto-grafische) Räume, in denen “ein reines Weiß aufglänzt, das in einer Unzahl von Zwischenstufen ins tiefste Nachtschwarz hinüberführt.”8 Franz Roh bezeichnete ihn 1961 als einen mit “unbändiger Phantasie, erstaunlicher Beobachtungsgabe und technischer Erfindungslust.”9
Die Ausstellung in der Galerie Julian Sander lädt ein, sich in den Bildern und der Schaffensvielfalt von Chargesheimer zu verlieren und sich von ihm eine vergangene Welt – die, die er sah, und die, die er selbst mitgestaltete – als Möglichkeit der Vorstellung zeigen zu lassen.
1 Chargesheimer: “Unter Krahnenbäumen. Bilder aus einer Straße”, mit einem Text von Heinrich Böll, Greven Verlag, Köln 1958, o.S.
2 Chargesheimer: “Zwischenbilanz”, Greven Verlag, Köln 1961, S. V.
3 Ebd., S. VI.
4 Stefanie Grebe: “‘Dabei habe ich die härtesten Photos gar nicht veröffentlicht!’. Neue Fotografien Chargesheimers aus dem Ruhrgebiet 1957”, in: “Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets”, hrsg. v. Heinrich Theodor Grütter u. Stefanie Grebe, Auss.-Kat., Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2014, S. 15–28, hier S. 16.
5 https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/kultur/rheinisches-bildarchiv/chargesheimer-karl-heinz-hargesheimer, zuletzt aufgerufen am 8.3.2023.
6 The Feroz Paper, Nr. 3, “Chargesheimer Not A Photographer”, Special Edition Paris Photo 2018, Galerie Julian Sander, Köln 2018.
7 Grebe in: “Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets”, 2014, S. 21.
8 Franz Roh in: Chargesheimer: “Zwischenbilanz”, 1961, S. XIX.
9 Ebd., S. XXIII.