Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) bei der Arbeit, 1964. © Barbara Deller-Leppert / Fotoarchiv Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Foto: Barbara Deller-Leppert

Der Rhythmus der Farben

Ernst-Wilhelm Nay im Duisburger Museum Küppersmühle.

Farben ziehen auf Leinwand ihre Kreise, sind laut und mal leise, Rot, Gelb und Blau auf schwarzem oder weißem Grund. Wie in Kugeln eingeschlossene Augen, die vor dem bösen Blick zu schützen scheinen oder als kreisrunde Flecken die Leinwand bedecken, wie Blüten knospen aus dem umgebenden Bildraum. Es sind Bilder, die vor dem inneren Auge auftauchen, kurz vor dem Einschlafen, sobald das Licht erloschen ist, aber die Gedanken zu glühen beginnen, innerlich. Ähnlich Vorboten eines noch zu träumenden Traums. So gleichen sie gebanntem Urchaos, wenn durcheinander geratene Formen über die Leinwand fliegen, stolpern, sich erst im Zusammenspiel beweisen und in die richtige Balance gesetzt zu einer stimmigen Symphonie vereinen.

Schlussakt in Duisburg

Im letzten Jahr wäre mit Ernst-Wilhelm Nay (1902–1968), einer der bedeutenden Künstler der Nachkriegsmoderne, 120 Jahre alt geworden. Das Jubiläum gab Anlass für eine große Retrospektive, die nach Stationen in der Hamburger Kunsthalle und im Museum Wiesbaden derzeit im Duisburger Museum Küppersmühle zu sehen ist. Die Präsentation der Duisburger Schau unterscheidet sich jedoch merklich von den anderen beiden Ausstellungen, sind doch elf Gemälde aus der eigenen Sammlung inkludiert und dafür andere Arbeiten wie Aquarelle außen vor gelassen. Des Weiteren ist die Schau zwar chronologisch aufgebaut, aber anstatt wie üblich mit den frühen Arbeiten beginnend, startet die Ausstellung mit dem Spätwerk, lässt das Museum die Besucher*innen Nays Schaffensphasen rückläufig abschreiten. Erst am Ende des Rundgangs gelangen die Interessierten zum wenig bekannten figurativen Frühwerk des Künstlers.

Frühe Gegenständlichkeit

Weiße Tierschädel, die wie mondbeschienen im Dunklen leuchten, aus Finsternis zum Licht hindeuten, mit eingefassten Augen, Pupillen gegossen wie in Edelstein. Sie erinnern an Picassos Stiere, wenn die Tiere auf geometrisch verschränktem Formbett ruhen. Aus hohlen Augen blickend scheint ihre Sterblichkeit aus fleischlicher Hülle zu blitzen, sich an die Oberfläche drängend hervorzutun. Daneben in vielfarbigem Reigen, wildem Farbenstrudel findet der Mensch zurück zur Natur. Als Fischer eins mit den Gezeiten, ein Leben bestimmt von Ebbe und Flut. Der Mensch wird zum vereinfachten Zeichen auf einsam felsiger Flur, wenn kalt erstarrte Felsenspitzen in den Himmel ausgreifen, trifft helles auf dunkles Blau.

Solch frühe gegenständliche Tierstudien, Landschaften und Porträts zeigen einen suchenden Nay, aus dessen Gemälden noch die Formen anderer Kunstschaffender wie Matisse oder der Kubisten sprechen und sich erst langsam zu einer eigenen Sprache etablieren. Orientiert am späten Expressionismus bilden sie den Ausgangspunkt für das abstrakte Werkschaffen. Denn in den frühen Gemälden ist bereits die beginnende Interaktion von Farbe und Form spürbar, scheinen die gehörnten Tiere sowie die Seeleute in ihre Umgebung hineinzustürzen, als würden sie sich in eine Sphäre jenseits menschlicher Wahrnehmung begeben, als seien sie an kosmische Kräfte angebunden. Schon in diesen für Nay ungewöhnlich figurativen Arbeiten löst sich die Farbe langsam aus der Form, fließt in den umgebenden Bildraum, ist spätere Reduktion bereits inbegriffen.

Unruhige Zeiten

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Nay zunächst mit einem Ausstellungsverbot belegt, in der Propaganda-Ausstellung "Entartete Kunst" öffentlich diffamiert, blieb allerdings Mitglied in der Reichskammer der Bildenden Künste, wodurch er Malmaterialien und Beihilfen erhielt. Mittels seines Netzwerks konnte er durch u. a. Edvard Munch sogar zweimal zu den Lofoten-Inseln in Norwegen reisen. Hier führt sich die Entwicklung innerhalb seiner Gemälde fort, werden die Menschen nunmehr zu einfachen Zeichen. Während seines von Dezember 1939 bis Mai 1945 andauernden Kriegsdienstes als Soldat mit Stationierung in Schwerin und anschließend in Südfrankreich gestaltete sich die künstlerische Arbeit zunehmend schwieriger, war es Nay erst ab 1942 als Kartenzeichner in Le Mans wieder möglich zu malen. Seltsam idyllisch wirken die Bilder aus dieser Zeit, zeigen Menschen bei der Apfelernte oder Szenen einer Familie. Doch bei genauerem Hinsehen ist es, als ob die Landschaft in lodernden Formen in Flammen stünde, blickt das Nichts aus schwarzen Knopfaugen.

Klingende Bilder

Nach dem Krieg zog sich Nay auf Einladung von Hanna Bekker nach Hofheim am Taunus zurück, bezog seine Inspiration aus biblischen Geschichten und griechischer Mythologie. Hier werden seine Konturen schärfer, gewinnen die Farben an Leuchtkraft, kulminieren vorerst in den seit 1949 entstehenden "Fugalen Bildern". Inspiriert von der Fuge als spezieller Kompositionsform in der Musik setzen die Farben zeitlich versetzt ein, aber erklingen am Ende gleichzeitig. Jeder Farbton lässt dabei eine bestimmte Nuance ertönen, welche sich folgend in die Gesamtkomposition eingliedert. Um schwarze Punkte kreisend legen sich die Gemälde in Bänder und Schwünge, sind rhythmisch durchpulst von einer figurativen Handlung, die sich so dicht verwoben nicht mehr vollends entschlüsseln lässt. Und doch blitzen Anmutungen von Figuren aus dem Chaos, greift hier eine Hand aus dem Bildgrund, weitet sich eine Pupille in Angst, kämpft sich eine lachende Fratze an die Oberfläche und verschwindet so schnell, wie sie zuvor kam. Ein musisches Schwingen versetzt das starre Bildgefüge in Bewegung, ist reich an Farbklängen, des Lebens übervoll.

Fünf Phasen in fünf Jahrzehnten durchwandern die Besucher*innen beim Gang durch die Ausstellung. Bei Betreten wie Verlassen der Schau finden sich die für Nay typischen abstrakten Kompositionen, die "rhythmischen Bilder", welche nach dem Umzug 1951 nach Köln entstanden und in denen sich die lebendige Betriebsamkeit der Großstadt widerspiegelt. In seinen "Scheiben-" und "Augenbildern" widmet sich Nay zudem physikalischen Phänomenen. Anknüpfend an die "Fugalen Bilder" ergibt sich eine Choreografie der Farben, deren feinsinnig ausgeloteten Kontraste die Scheiben optisch in Schwingung versetzen.

Feier von Farbe und Form

In der Nachkriegszeit nimmt das öffentliche Interesse an Nay rasch zu. Er vertritt Deutschland auf Biennalen in Venedig und São Paulo, nimmt mehrmalig an der Documenta in Kassel teil. Von Zeitgenossen wurde Nay allerdings "mangelnde gesellschaftliche Relevanz" vorgeworfen, seine Arbeiten als dekorativ abgewertet. Die Retrospektive in Duisburg zeigt, dass seine Kunst durchaus gesellschaftliche Bezüge aufweist, in damals neue Bereiche der Malerei vordrang. Allen ausgestellten Arbeiten gemein ist dabei das Feiern von Farbe und Form mit Titeln wie "Lob des Grün" und wer ganz still ist im Museum Küppersmühle, kann ihn vielleicht sogar hören: den Rhythmus der Farben.

E.W. Nay – Retrospektive, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 24. März bis 6. August 2023