Über Dirk Dietrich Hennig, Die Sammlung Rudolf, Sprengel Museum, Hannover, 17. August 2022 – 8. Januar 2023.
Nur noch selten zeigt sich in der zeitgenössischen Kunstpräsentation eine Ausstellung, die vor dem Hintergrund diverser kuratorischer Konzepte nicht durch ihre Einzigartigkeit überzeugen wollte. Anders jedoch die im Sprengel Museum Hannover zu entdeckende Ausstellung Die Sammlung Rudolf des Künstlers Dirk Dietrich Hennig: Ihr Erscheinungsbild, das an unzählbar gesehene Sammlungspräsentationen der klassischen Moderne in Kunstmuseen erinnert, formuliert geradezu hierdurch die Essenz ihrer zwischen Keilrahmen und Vitrinen angeordneten Absicht.
Akkurat in Reihe hängen die Werke, die sich der ausgebildeten Kunsthistorikerin als wohl bekannt andeuten oder mit Vermutungen der Kenntnis und des Wiedererkennens spielen. Durch Schaukästen hindurch und über Sockel mit erhöhten Skulpturen hinweg schiebt sich der Blick auf eine fulminante Präsentationswand, die mittels 28 Werke das Vokabular der Kunstgeschichte von Avantgarde und Konstruktivismus bis hin zum Nouveau Réalisme abbildet. Gesäumt werden die Bilder und Objekte von Tischvitrinen, die von dem Leben des Sammlers und Kunstfälschers Carl Gerhardt Rudolf erzählen – eine fiktive Figur und ihr ‘Œuvre’, das den Ausstellungsraum im Sprengel Museum füllt und Motiv der raffinierten Narration ist, die der Künstler Dirk Dietrich Hennig hier inszeniert.



Hennigs Geschichte, die raum- und textfüllend ist, beginnt so: Der Historiker, Autodidakt und Vereinnahmte des DDR-Regimes Carl Gerhardt Rudolf (geboren 1922 in Erfurt, gestorben 2012 in Venedig) sei für die bislang unbekannte Abteilung Kommerzielle Koordinierung: Moderne Kunst (MoK), die im Kontext des von Alexander Schalck-Golodkowski initiierten Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) des Ministeriums für Außenhandel der DDR bestanden habe, zum Zweck der Devisenbeschaffung als unfreiwilliger Kunstfälscher tätig gewesen. Rudolf, der unter dem Decknamen Rembrandt agierte, sei für die Erweiterung eines existierenden Œuvres moderner Kunst durch Fälschungen und Nachahmungen populärer Werke bedeutender Künstler:innen zuständig gewesen, um verschiedene Bereiche des europäischen Kunstmarkts zu bedienen. Der Grund, weshalb Rudolf für diese Tätigkeit gewählt worden war, sei seine Expertise als Historiker gewesen, im Rahmen welcher er sich mitunter mit dem Phänomen der Aura von Kunstwerken nach Walter Benjamin befasst haben soll und im Zuge dessen er bereits zur Stützung seiner eigenen Thesen Reproduktionen von Kunstwerken angefertigt hatte haben sollen. Nach seinem Tod in Venedig sei sein Nachlass durch versuchte Veräußerung über ein Auktionshaus als mutmaßliche Fälschung deklariert worden. Aufgrund der massiven Aktenvernichtung im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) um 1989 sei eine lückenlose Rekonstruktion der Sammlung Rudolf nicht mehr möglich.
Das künstlerische Werk von Dirk Dietrich Hennig (*1967) zeichnet sich aus durch “Geschichtsinterventionen” wie diese um die Figur Carl Gerhardt Rudolf und dessen Sammlung: Denn seit über 20 Jahren erschafft Hennig Charaktere, Narrative und ihr zugehörige Werke und Artefakte, die “Eingriffe in die Geschichtsschreibung und Ergänzungen geschichtlicher Vorgänge als künstlerische Intervention” mit sich bringen.1 Die Liste der von ihm erfundenen und literarisch, visuell, als auch durch ihn selbst performativ dargestellten sowie fotografisch dokumentierten Figuren ist lang und zugleich vielfältig, reichen sie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, so vom Komponisten, Fotografen und Erfinder der Fotokamera Babám No. 1 Gustav Szathmáry (1867-1907) über den mit fotografisch collagierten “Erinnerungsbildern” arbeitenden Künstler Jean Guillaume Ferrée (1926-1974) im Stil des Fluxus bis hin zu dem Künstlerduo George Cup & Steve Elliott (1930-2008/1933-1986), die er in Manier der amerikanischen Minimal Art und Lichtkunst inszeniert hat.2 Zusammenhang vieler seiner Figuren ist die Arbeit mit dem Medium Fotografie. So verwundert es nicht, dass Hennig beim Beleuchten des Kunstfälschers Carl Gerhardt Rudolf nun gleichermaßen den Fokus auf die Theorie der Fotografie und die Reproduzierbarkeit von Bildern richtet, ausgehend davon, dass ein Kunstwerk, das durch ein Objektiv erfasst wird, in seiner mediatisierten Erscheinung auch einer veränderten Perspektive und infolgedessen Bezugnahme unterliegt.
Dirk Dietrich Hennig zieht in seiner künstlerisch-performativen Analyse den (erstmals 1936 in französischer Sprache veröffentlichten) Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Walter Benjamin heran, den er im Ausstellungskontext zunächst als Publikation in einer der Vitrinen als Referenz für das Schaffen des Carl Gerhardt Rudolf ausstellt und dies in den die Schau begleitenden Texten kommentiert. Hennig legt der Lesart seiner Ausstellung damit nicht nur einen Subtext zugrunde – er bringt vielmehr einen entscheidenden Aspekt seines eigenen künstlerischen Handelns zum Reflexions-Gegenstand. Gekonnt überführt er die beim Betrachten der von ihm präsentierten Bildwerke und Plastiken entstehende Langeweile, die wie eingangs beschrieben aus einem Erlebnis der Wiederkehr von bereits Gesehenem entsteht: Bilder, die sich wie verzerrte Erinnerungen an das Auge heften und als ein ‘Schon-einmal-Gesehen’ auf ein Anderswo oder auch auf eine gewisse Art der Beliebigkeit verweisen. Er überführt sie in einen Prozess der aufsteigenden Analyse, da er Fährten legt, die durch einen von ihm konzeptuell konzipierten Parcours der Kunstbetrachtung führen.
Indem so Hennig die Produktion von Kunstwerken wie auch ihre Fälschung oder Imitation an die fotografische Reproduktion von Kunstwerken koppelt – auch im Sinne Benjamins, wo fotografische Reproduktion und Politik eng miteinander verknüpft gedacht werden sowie künstlerisches Kopieren erst durch das Medium Fotografie zu machtpolitischen und kapitalistischen Produktwerten führten3 – bringt er entlang der Figur Carl Gerhardt Rudolfs und dessen Geschichte gleichermaßen Künstlertum, Kunstmarkt, Kunstberichterstattung und das Kunstsystem in eine kritische Betrachtung, die in ihrer nüchternen Darstellung die poröse Substanz des Sujets hervorkehrt. Zugleich unterstreicht Hennig, dass die Kopie oder Modifikation eines Kunstwerkes selbst als eine Verfahrensweise Gültigkeit erlangt hat. Denn es geht auch in Hennigs künstlerischem Schaffen und Werkkomplex nicht allein um das Erzeugen von fiktionalen Trugbildern, sondern um die Facetten des Erzählens, die er durch (mitunter fingierte) Recherchematerialien wie anhand frei erfundener Presseberichterstattung oder gefälschter Personalakten anreichert – und damit um eine durch das Medium Fotografie ermöglichte Neuausrichtung und Bezugnahme zu Fragen künstlerischer Produktion. Wenn der Künstler über die Figur Rudolf also die These formuliert, dass “[…] das Kunstwerk Projektionsfläche für das Bedürfnis nach Bedeutsamkeit […]”4 sei, unterstreicht er damit zugleich auch die multiplen Perspektiven, die von einer Projektionsfläche durch persönliche Bedeutungszuschreibungen im Spiegeleffekt ausgehen und ihrerseits Bedürfnisse generieren, die ihrer Kalkulation nach kaufbar werden. Nicht ohne Grund hat sich das Erzeugen von Bedürfnissen allem voran auch durch das Entlehnen von künstlerischem Vokabular, das sich etabliert hat, auf dem Kunstmarkt seit Jahrzehnten fortschreiben können.5
Die Aspekte, die Dirk Dietrich Hennig mit seiner Ausstellung Die Sammlung Rudolf zwischen Bildern, Objekten, Ephemera und kontextualisierenden Büchern auf den Sitzbänken einstreut, sind vielfältig und klug. Man könnte sich hier entgegen des anfänglich noch empfundenen Unmuts schließlich doch stundenlang aufhalten und Wahrnehmen, Lesen, Vergleichen und Denken. Die Ausstellung zeigt dabei einmal mehr, wie sehr es lohnt, die Selbstgefälligkeiten der Kunst zu überwinden – zugunsten eines rezipierenden und reflektierenden Schauens.
1 Vgl. Dirk Dietrich Hennig – Geschichtsinterventionen, Kunst der Gegenwart aus Niedersachsen, Band 77, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, Klappentext vorne.
2 Vgl. ebd., S. 75ff., 63ff., 51ff.
3 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – Drei Studien zur Kunstsoziologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, S. 7-44, hier S. 18, 20, 28, 37.
4 Handzettel begleitend zur Ausstellung, Sprengel Museum Hannover.
5 Siehe hierzu z.B. Wolfgang Beltracchi in: „Fälscher, Betrüger, Hochstapler – Warum gehen wir ihnen so gerne auf den Leim?“, ZDF Aspekte vom 30.09.2022, TC 19:31-23:59, https://www.zdf.de/kultur/aspekte/hochstapler-kulturgeschichte-100.html, zuletzt aufgerufen am 12.10.2022.