Porträt von Ole Scheeren, © Ole Scheeren, © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Felix Grünschloß

Wie wollen wir in Zukunft leben?

“ole scheeren: spaces of life” im ZKM

Skulptural schrauben sich in den Lichthöfen des Karlsruher ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) Gebäude in die Höhe, Modelle des Architekten Ole Scheeren. Jedes von ihnen ist mit einem individuellen QR-Code ausgestattet, der nach dem Scannen das Bauwerk auf dem Bildschirm des Smartphones in seine reale Umgebung versetzt. Es finden sich verwinkelte horizontale Bauten, die wie Backsteine ineinander verschachtelt liegen, aber auch riesige vertikale Hochhäuser, die von ganz allein einen gewissen Herrschaftsanspruch entwickeln.

Die erste große Einzelausstellung des vielfach ausgezeichneten Ole Scheeren lässt sich derzeit im ZKM in Karlsruhe, seiner Geburtsstadt, unter dem Titel “spaces of life” erleben. Von 2002 bis 2010 war Scheeren Partnerarchitekt bei OMA von Rem Koolhaas, 2010 gründete er sein eigenes Architekturbüro mit Niederlassungen überall auf der Welt – in Hongkong, Peking, Berlin und London. Von dort aus leitet er seitdem die Geschäfte, ist für die kreative Vision sowie für die strategische Planung seines Unternehmens verantwortlich. In der Ausstellung ist alles überdimensional, raumgreifend und passt zum Anspruch des eloquenten Architekten, der durch seine innovativen Hochhausbauten, Wohnprojekte und hybriden Kulturräume bekannt geworden ist.

Architektonische Zeitreise

Aufmerksamkeit erzielte das Büro Ole Scheeren mit ungewöhnlichen Projekten, wie beispielsweise dem “Archipelago Cinema”, mit welchem 2012 eine aus sechs Modulen bestehende hölzerne Plattform für das thailändische Festival “Film on the Rocks” geschaffen wurde. Inmitten von Lagunen spannte Scheeren eine Leinwand zwischen die Felsen. So ließ sich das mittels lokaler Techniken auf dem Wasser schwebende Kino von den Besuchenden nur durch eine Bootsfahrt erreichen. Ein anderes Projekt richtete sich auf das legendäre New Yorker Delikatessengeschäft “Dean & DeLuca”, dessen Tresen sich bei der Neueröffnung einer Zweigstelle in eine Bühne verwandelte. Die tatsächlich als “STAGE” benannte offene Küche machte die dort tätigen Köche und Baristas zu Darstellenden, das Kochen zu einer Inszenierung, die gelebte Esskultur zu einem Ort des Miteinanders.

Nicht weniger als 100 Modelle reihen sich darüber hinaus im ZKM als 3D-Drucke an einer 42 Meter langen Timeline aneinander, spiegeln die Historie von Scheerens langjährigem Schaffen wider. Mittels Augmented Reality lassen sich die Gebäude auch tatsächlich selbst erleben, die Außen- wie Innenräume abschreiten, als würde man gleich eigens darin leben.

Gesellschaft im Wandel

Die Ausstellung stellt die Grundsatzfrage: “Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben?” Angesichts einer Gesellschaft im Wandel muss auch die Architektur sich den neuen Bedürfnissen ihrer Bewohnenden anpassen, bilden Gebäude doch die Prototypen für das Leben von morgen. Die Coronapandemie hat diesbezüglich als Beschleuniger fungiert, doch bestimmte Entwicklungen haben sich bereits vorher deutlich abgezeichnet. Es gibt neue Anforderungen an den Beruf und neue Formen von Familie abseits des klassischen Modells. Mittlerweile wird viel öfter von zu Hause gearbeitet, gestalten sich die Arbeitszeiten zunehmend flexibler, rückt die Work-Life-Balance für viele Menschen in den Fokus, sodass nicht nur der Bedarf an Arbeitszimmern und gemeinschaftlich genutzten Arbeitsbereichen steigt, sondern sich auch die Lebensqualität in Büroräumen anpassen muss.

Strukturen sollten taktil auf solch veränderte Bedürfnisse reagieren können, wandlungsfähiger werden, sich nach außen hin öffnen. Dabei muss Nachhaltigkeit nicht nur im ökologischen Sinne verstanden werden, sondern auch als sozial nachhaltig. Der Fokus geht weg von riesigen Innenstädten hin zu mehr Vernetzung im eigenen Viertel, richtet sich auf gemeinschaftlich genutzte Flächen. “The Interlace” in Singapur mit seinen 1040 Wohneinheiten ist ein Beispiel für ein derartiges Großprojekt, welches sich zur Natur hin öffnet und zugleich soziale Räume schafft. Die Wohnanlage versteht sich als Gegenentwurf zu den eigentlich geplanten 12 Türmen, zu vertikalen Hochhäusern im Allgemeinen, deren obere Etagen nur über einen Aufzug zu erreichen sind. Denn eine wechselseitige Beziehung zwischen Bereichen für die individuelle wie kollektive Nutzung, zwischen privaten wie öffentlichen Räumen, wird in Hochhäusern mittels Abschottung eher verhindert als befördert. Das 2014 erbaute “The Interlace” besteht aus Wohnblöcken mit je sechs Etagen, die übereinandergestapelt aber bis zu 24 Stockwerke hoch und als Hexagon angeordnet sind. Mithilfe von acht begrünten Innenhöfen, einem Fitnessstudio, Tennis- und Basketballplätzen, Swimmingpools, Spielplätzen für Kinder, Karaoke-Räumen und Billardtischen soll zwar die Möglichkeit zum individuellen Rückzug gegeben sein, aber gleichzeitig Raum für gesellschaftliche Interaktion bestehen.

Form follows fiction

Für Scheeren folgt – gemäß seinem Mantra “form follows fiction” – die Form der Erzählung: Architektur soll über die reine Funktionalität eine Bühne für Emotionen und Erfahrungen bilden. Umso wichtiger ist ihm die Reaktion der Menschen auf seine Bauwerke, der tatsächliche Alltag in den Gebäuden. Inmitten der Ausstellung findet sich eine Art kreisförmig angelegter “Media Dump”, der ein Gewirr an Stimmen, an Gesichtern für die Besuchenden bereithält. Eine scheinbar unendliche Menge aus Posts und Videos diverser Social-Media-Kanäle flutet im Zentrum dieses medialen Amphitheaters die Augen, zeigt die tatsächliche Interaktion mit der Architektur oder zumindest deren mediale Rezeption. Für den global agierenden Architekten, der mittlerweile selbst in zehn Ländern gelebt und in noch mehr gearbeitet hat, scheint das verbindende Element im Fokus zu stehen: Architektur sollte verschiedene Lebensentwürfe, unterschiedliche Kulturen miteinander verknüpfen. Dabei dürfen die Architekturen zugleich optisch auch sehr Instagram-tauglich aussehen.

Nachhaltigkeit versus Neubau

Wer aber kann sich zukünftig noch Wohnraum leisten, der für viele Menschen zunehmend unbezahlbar wird? Gebäudekomplexe wie “The Interlace” stehen im Gegensatz zu Projekten von Unternehmen, deren Architekturen weniger als tatsächliche Lebensräume fungieren, sondern eher als Spekulationsobjekte mit möglichst großem Gewinn weiterverkauft werden sollen. Allerdings sind die ikonischen Architekturen von Ole Scheeren keine kostengünstigen Sozialbauten, sondern bilden Rückzugsorte für Menschen, die sich ein solches erlebnisorientiertes Wohnen leisten können. Zudem muss erwähnt werden, dass – auch wenn Scheeren der Aspekt der Nachhaltigkeit besonders wichtig scheint – es sich bei seinen Projekten um riesige Neubauten und bisher nicht um die Umnutzung bestehender Bausubstanz handelt. Auffällig ist, dass Scheerens Projekte hauptsächlich im asiatischen Raum zur Ausführung gelangen und viel seltener in Europa und den USA. Neben dem Wohnkomplex in Singapur schuf er beispielsweise einen Wolkenkratzer in Bangkok oder den neuen Sitz des staatlichen Fernsehens in Peking. In asiatischen Megacitys ergeben sich angesichts der großen Anzahl an Bewohnenden andere Anforderungen an die Architektur als im westlichen Raum, besteht ein viel größeres Interesse an vertikaler Verdichtung und sind ökologische Aspekte in autoritär regierten Ländern weniger im Fokus der Aufmerksamkeit.

Ein neues Projekt von Scheeren soll dagegenhalten: Mit dem geplanten “Riverpark Tower” in Frankfurt am Main erfolgt zum ersten Mal der Umbau eines bestehenden Bürogebäudes aus den 1970er-Jahren in Wohnraum. Angesichts einer sich immer weiter verschärfenden Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt, eines den Bestand zunehmend übersteigenden Bedarfs an Wohnraum, wären die hybriden skulpturalen Architekturen eines Ole Scheeren durch ihr innovatives Zusammendenken von Wohnen und Arbeiten von großer Bedeutsamkeit, könnten doch die Visionen des deutschen Stararchitekten den Weg in die Zukunft des Bauens weisen.