Ausstellungsansicht im Georg Kolbe Museum, Leiko Ikemura © Leiko Ikemura und VG Bild-Kunst Bonn, 2022,Georg Kolbe Museum, Foto: Enric Duch

Offene Köpfe für offene Gedanken

Leiko Ikemura im Berliner Georg Kolbe Museum.

Im Georg Kolbe Museum haben sich seltsame Figuren versammelt, in die sich gedanklich eintreten lässt, die fast religiöse Präsenz ausstrahlen. Mythische Kreaturen mit kontemplativen Gesichtern, die mit zur Brust geführten Armen ruhige Kraft aussenden und die Betrachtenden mit Röcken wie christlich geprägte Schutzmantelmadonnen umsäumen. Durch die Röcke, die wie Zelte Einlass gewähren, fällt das Licht durch gebrochene Oberflächen, bildet sich ein Sternenhimmel, wird die Plastik zum Schutzraum. Sensible Stielohren wachsen aus den Köpfen der Figuren wie Antennen, mit welchen die Zwiewesen in die Natur hineinspüren können. In eine unsichtbare Sphäre dringen sie ein, sind an uns immerzu umwirkende magische Kräfte angebunden. Vergleichbar dem Hirsch als Motiv bei Beuys, der mittels seines fein verästelten Geweihs Zugang zu einer besonderen Form des Wissens hat, der eine überweltliche Verbindung zum Universum in sich trägt. Kleine und große Figuren aus glänzender Keramik wie grünlich patinierter Bronze scheinen dabei einander verwandt zu sein, wenn sie mit offenen Köpfen Gefäße für unsere Assoziationen bilden. Halb Hase, Vogel, Fisch, Katze und halb Mensch sind sie gleichermaßen vertraut wie fremd. Mit fließend geformten Gesichtern geben sie Rat, erzählen Geschichten, sind beinah von ägyptischer Eleganz. Auf Gemälden zu ihren Köpfen aber breiten sich auf lichten Flächen dunkle Farben wie düstere Gedanken aus, ähneln schwarzen Tintenflecken auf einem versehentlich ruinierten Bild.

Die Metamorphose des Seins

Im nächsten Raum finden sich Menschen, die wie verträumte Blütendolden auf dem Boden liegen, wie Knospen aus dem Winterschlaf erwachen. Genauer gesagt sind es Mädchen, welche im emotional wechselhaften Zustand des Erwachsenwerdens, der Entwicklung hin zur Frau begriffen sind. Durch den kopflosen Rumpf lässt sich bis ins Innerste blicken, fällt Licht in brüchige Existenzen, in die Dunkelheit eines fragilen Ichs. Was, wenn sich nicht beschützen ließe, was den Mädchen innewohnt? Und die Arme so lange auf den Augen lägen, bis sie verwachsen mit den dunklen Höhlen sind, das Ich zum gebrochenen Gefäß nach innen geweinter Tränen wird. Tränen, die sich nicht einmal am Grund sammeln können, bis sie den Körper von innen fluten, sondern stattdessen zu Kopf und Füßen aus der dunklen Leere bluten. Die Metamorphose zu einem anderen Seinszustand kann schmerzvoll sein, gleicht fast einer Geburt aus der eigenen Gestalt. An der Wand erzählen begleitend Gemälde in fließenden Farben und Formen von Schatten und Licht, von sonnendurchfluteten Existenzen, sobald deren Verletzlichkeiten offengelegt sind. Am Ende der überirdischen Etage führt der Gang durch die Ausstellung schließlich in eine Sackgasse, in der – auf Sand aufgebahrt – eine mit “Memento Mori” betitelte Figur liegt, begriffen irgendwo im natürlichen Prozess zwischen Werden, Sein und Vergehen, innerhalb dessen der Tod nicht zwangsläufig das Ende meint.

Porträts des Ungesehenen

Die Treppe hinunter öffnen sich im unterirdischen Kellergeschoss blaue Gefühlswelten, formen in den dunklen Umraum ausgreifende Silhouetten, muten wie menschliche Antlitze an. Sie sind Porträts des Ungesehenen, der inneren statt der äußeren Gestalt. Ihre Umrisse wirken wie mit Aquarell auf Wasser gemalt, dünne Lasuren, die auf der Oberfläche des Sichtbaren schwimmen, darunter die dunklen Tiefen des Ozeans verborgen halten. Blaue Schemen, die es nur im Augenwinkel zu betrachten gilt oder Auren, die Menschen umschimmern, aber den meisten für immer unbekannt sind. In unmittelbarer Nähe thronen auf Stelen Objekte aus buntem Glas gleich wertvollen Schätzen. Transluzide Figuren, aus denen Gedanken wie diffizile Pflanzen wachsen und Landschaften erbauen auf der glatten Haut. Immer wieder lassen sich die Skulpturen umrunden, das Spiel des Lichts auf ihrer Oberfläche erkunden, welches nicht nur bis ins Innerste, sondern gleich hindurchfällt. Je nach Blickwinkel verändern sich die Proportionen, die Gesichtszüge, bilden sich dunkle Umrisse gleich Scherenschnitten auf dem darunterliegenden Grund. Die kristallinen Gebilde gleichen im Licht schmelzenden Eisblöcken, versehentlich in der Sonne abgelegt. Was wohl im Innern lauert, wie von Harz umschlossen? Die durchsichtigen Kristalle schützen schlummernde Figuren, gefertigt aus demselben Material. Vielleicht träumen sie davon, etwas anderes zu sein als sie bisher waren? Träumen von hybriden Wesen mit okkulten Kräften, von Hasen mit einem Pfauenfederrad. Es ist, als ob das Ich schlafend lag, als die Welt erwachte und Gedanken aus ihm erwuchsen, wo sonst Ohren waren. In den Glasobjekten fängt sich das Licht, als sei es auf magische Weise darin gebunden, sodass man meinen könnte, bei Mitnahme der Objekte gehöre einem auch das Schimmern im Innern. Ein Potenzial, das in der Dunkelheit ungesehen, aber trotzdem vorhanden ist, tief versunken in einer jeden Kreatur zu finden ist. Die auf den Stelen liegenden Werke erinnern an die Köpfe von Thomas Schütte, beziehen genau wie diese ihre Schönheit aus der Imperfektion.

Ausbruch aus der Verschalung

Immerzu betreten die Besuchenden der Ausstellung “Witty Witches” dunkle Räumen, zumeist die inneren finsteren Kammern, mit den Augen die Plastiken, dann aber ein wirklich düsteres Zimmer. Dort schweben an Fäden Figuren, die an die Wände Schatten wie Gehängte werfen. Sie gleichen Gliederpuppen mit wie aus Löchern blickenden Augen, deren Körperteile wie Beutestücke an Schnüren aufgeknüpft hängen. Ähnlich verpuppten Raupen scheinen sie auf ihre Metamorphose zu warten, den Ausbruch aus der gegebenen Form zu planen. Welche Farben würden sie wohl haben, umspielt von Licht?

Was, wenn die eigene Existenz, der Körper, zum Kerker wird? Solange bis die Verschalung bricht und eine Hülle zurücklässt, auf der dann Vögel am Rand sitzen, weil das Zurückgelassene eine Ruine ist. Ein leeres Behältnis, ein Gefäß ohne Boden, durch das alles hindurchfällt, in dem das Leben versickert, sich nichts sammeln lässt. Was aber, wenn die Welt sich dann über den Körperlosen schützend stellen würde, sodass er durch die Bruchstellen der Realität glitzerndes Licht erblickt? Wenn es sich tatsächlich eines Tages hinaustreten ließe aus der geplatzten Verschalung, sodass das Innere endlich wieder Luft zum Atmen kriegt?

Vereinigung der Gegensätze

Die Ausstellung “Witty Witches” der in Berlin lebenden japanischen Bildhauerin Leiko Ikemura ist ein sensibles Hineinhorchen in Natur wie Mensch, ein Blick in die Tiefen der Realität, ein Anerkennen der Schönheit von Ambivalenz. Geboren 1951 in Tsu in der japanischen Präfektur Mie, lebt die Künstlerin nach Stationen in Spanien und in der Schweiz seit 1987 in Berlin, lehrte dort an der Universität der Künste. In Stille und Unaufgeregtheit lassen sich in der Ausstellung Antworten auf ungestellte Fragen finden, die sonst nur auf dem Grund der Existenz verortet sind. Ikemura verbindet in fantastischen Kreaturen Mensch und Tier, fernöstliche und westliche Kultur, buddhistische und christliche Motivik. Das spiegelt sich auch in den geometrischen Formen der als “Braut” und “Säule II” benannten Skulpturen, die ähnlich Schachfiguren aussehen und am Anfang der Schau platziert sind. Heiratet die Königin hier den König oder doch den Läufer, den Turm? Schwarz spiegelt sich im Weiß und umgekehrt, die Figuren umspielen einander wie Yin und Yang.

Alles ist im Fluss bei Ikemura, changiert in einem Prozess ständiger Transformation zwischen Formwerdung und Auflösung, spielt sich gleichzeitig im Innen und Außen ab. Immer wieder taucht dabei das Bild des Hasen auf, der in Japan als “Usagi” ein Sinnbild für Barmherzigkeit, Selbstlosigkeit und Fürsorge darstellt. Der Künstlerin gelingt es, zeitlose Themen ganz aktuell werden zu lassen, wenn die Bedeutung der Verbindung zur Natur, das Zusammenleben von Mensch und Tier, die Stärke von Verbundenheit hervorgekehrt wird. Es ist die Poesie der kleinen Dinge, die in Farben, Formen und Worten in der Ausstellung hörbar wird und die Besuchenden in ein stummes Zwiegespräch mit der Welt und sich selbst versetzt.