Zu “Die Zukunft der Kritik”, Bundeskunsthalle, Bonn, und Akademie der Künste, Berlin
“Art criticism is massively produced and massively ignored.” (James Elkins)
Man kann, wenn man langmütig genug ist, um den Kunstbetrieb über längere Zeiträume zu beobachten, immer wieder erleben, welche Art von Ereignissen die professionelle Kunstkritik wirklich bewegt und anspornt. Es sind nicht, wie man meinen sollte, die Kunstwerke selbst, sondern eher die Begleitumstände ihres Auftretens, und zwar besonders dann, wenn diese das Ausmaß skandalträchtiger Betriebsunfälle annehmen. In solchen Momenten scheint es oft so, als ob sich Kritik und Publikum besonders nahe sind, denn zuverlässig belohnt das Publikum gesteigerte Erregungszustände mit erhöhten Klickzahlen.
Die Versuchung, für dieses Zusammenspiel die documenta als frisches Beispiel heranzuziehen, ist (immer noch) groß. Wir erinnern hier aber zunächst an ein anderes, ebenso gut geeignetes Beispiel: an die Ausstellung “Diversity United” nämlich, eine Show, die in Teilen der Abfertigungshallen des früheren Flughafens Berlin-Tempelhof stattfand. Die Räumlichkeiten wurden bei dieser Gelegenheit in “Kunsthalle Berlin” umbenannt. Was ein schwerwiegender Fehler war. Als sich nämlich in der hauptstädtischen Künstlerschaft Widerstand gegen die handstreichartige Etablierung einer Berliner “Kunsthalle” unter Ausschluss der Öffentlichkeit regte, verflüchtigte sich die wohlwollende mediale Begleitung und machte für eine weniger enthusiastische Berichterstattung Platz, die nun dem Protest, bissig artikuliert von dessen Fahnenträgern Hito Steyerl, Jörg Heiser und Clemens von Wedemeyer, Raum gibt.
Kunstjournalismus dieser Art, geprägt von den Parametern der Aufmerksamkeitsökonomie, hat bestenfalls am Rande etwas mit Kunstkritik zu tun. Er hebt auf Prozesse ab, wie sie überall stattfinden, wo Menschen in politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenhängen zusammen- oder auch gegeneinanderwirken. Und obwohl dies den Akteuren sicher bekannt ist, wird Kunstkritik fast immer so verhandelt, als gäbe es den um Aufmerksamkeit heischenden säkularen Kunstjournalismus überhaupt nicht: Wenn sich Kunstjournalisten äußern, entsteht eben Kunstkritik und nichts anderes.
Darauf verzichtet zu haben, von Anfang an klar zwischen “criticism” und “content production” zu unterscheiden, ist ein Vorwurf, den man den Machern der Veranstaltung “Die Zukunft der Kritik”, die an zwei vorweihnachtlichen Wochenenden in der Bundeskunsthalle in Bonn und in der Akademie der Künste in Berlin stattfand, leider nicht ersparen kann. Jedenfalls hat er besonderes Gewicht, weil die Gleichsetzung von Kunstkritik und Kunstjournalismus zwar etwas Alltägliches ist, bei dieser Gelegenheit aber hätte vermieden werden müssen. Man durfte eigentlich erwarten, dass die übliche Verschmelzung beider Begriffe gleich zu Beginn verbindlich für die gesamte Veranstaltung auseinanderdividiert worden wäre. Dass also zunächst einmal (etwa im Sinne der kantischen Bestimmung der philosophischen Grundfragen) entfaltet worden wäre, was Kunstkritik über Kunst wissen kann, was sie tut (oder wie sie vorgeht), was wir von ihr erhoffen (oder erwarten) dürfen – was also Kunstkritik eigentlich ist, um so ihr Claim im weiten, manchmal auch sehr flachen Gelände des Kunstjournalismus abzustecken. Ohne diese Klärung konnte es einerseits passieren, dass gleich in einem der ersten Panel (“Sinn und Eigensinn: Verstehen sich die Kritik und die Künste”) Georg Imdahl als Moderator mit verblüffender Offenheit und zugleich etwas ratlos erklärte, das “Rezensionsgeschäft” interessiere eigentlich niemand mehr, trotzdem werde es nach wie vor gemacht. Hier war salopp von Kunstkritik im eigentlichen Sinne die Rede, während andererseits in einer Keynote, die diesem Panel vorausging, von Carolin Busta und Lil Internet (beide Autor:innen des Podcasts “New Models”) die Ökonomie des Schreibens über Kunst beleuchtet wurde, ohne “criticism” und “content production” voneinander zu scheiden.
Aufmerksamkeitsökonomie und Kunstkritik
Die zitierte Äußerung Imdahls weckt den Eindruck, als ob Kunst und Kultur als Themen zwar stattfänden, aber auf wenig Interesse stießen. Das stimmt nur halb. Denn in wichtigen Teilen unserer Medienwelt ist die traditionelle Kunstkritik längst verabschiedet worden. Nimmt man als Beispiel das “Redaktionsnetzwerk Deutschland” (RND.de), das gefühlt fast jede deutsche Tageszeitung mit dem Thema Kultur versorgt, dann kommt die klassische “Review”, in der Ausstellungseröffnungen, literarische Neuerscheinungen oder Theaterpremieren “besprochen” werden, so gut wie gar nicht mehr vor. Die Plätze, die in den Zeitungsfeuilletons traditionell für “E-Kultur” reserviert waren, sind nicht verschwunden, werden aber von Ereignissen der “U-Kultur” vereinnahmt (sofern man bereit ist, Ereignisse wie den Beginn einer neuen Staffel des “Dschungelcamps” überhaupt der kulturellen Sphäre zuzurechnen).
Es ist also nicht so, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, so wie Habermas einst dekretierte, in der sachkundige Journalisten dem Publikum Orientierung in einer für die Demokratie gedeihlichen Form anbieten, als ein Modell der “Top-down”-Kommunikation vollständig durch etwas Neues ersetzt wurde. Allerdings sind es immer seltener die Leitbilder bürgerlicher Kultur, die die Diskurse bestimmen. So wie Carolin Busta und Lil Internet es vorschlugen, kann man zwar dem linearen ein komplexeres Kommunikationsmodell gegenüberstellen, in dem an die Stelle der Öffentlichkeit die “Cloud” getreten ist. Dieses Bild passt allerdings nur dann, wenn man außer Acht lässt, dass sich die beteiligten Akteure nur noch selten eindeutig der einen oder anderen Sphäre zuschlagen lassen: Der Kritiker ist eben nicht mehr nur Kritiker, sondern zugleich auch Kolporteur, Blogger oder aktiver Nutzer der Kanäle, die uns die sogenannten Sozialen Medien anbieten. Der “decline in quality”, den Carolin Busta und Lil Internet dem Umstand zuschreiben, dass der Kritiker nur noch ein Signal unter vielen sende, ist nicht (nur) auf seine neuen Konkurrenten, sondern eben auch auf Verschlankungen und Strukturmaßnahmen in den Verlagshäusern und Sendern zurückzuführen. Das und nicht allein die Cloud ist die Folge des Bedeutungsverlustes, der zu wesentlich schlechterer Bezahlung (“decline in payment”) geführt hat. Wobei man sich fragen muss: “Henne oder Ei”? Haben die Verlagshäuser nur reagiert oder proaktiv die Verlagerung des Publikumsinteresses vorangetrieben?
Das Szenario “Einer gegen alle” ─ mit dem Legacy Media-Kritiker traditionellen Zuschnitts auf der einen Seite und der nunmehr selbst urteilenden und die Öffentlichkeit suchenden “Masse” des Publikums auf der anderen ─ ist sowieso eine Konstellation, die nicht als eine vollständig neue betrachtet werden kann. Julia Grosse erinnerte zu Recht daran (im Panel “Das Urteil der Masse vs. Das Urteil der Experten”), dass sich mit dem Pariser Salon des Refusés, also bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Publikum als wichtiger Faktor mit starkem Einfluss auf die Meinungsbildung etabliert hatte. Und in der Jetztzeit weiß jeder, der schon mal einen Facebook-, Twitter-, Instagram- oder TikTok-Account ins Leben gerufen hat, dass es mehr als die Formulierung einer Botschaft braucht, um über diese Kanäle eine spürbare Wirkung zu erzielen. Denn tatsächlich verhält es sich so, dass sich zwar viele zu Wort melden, aber nur wenige mit ihrer Wortmeldung wahrgenommen werden. Bestenfalls eine sehr kleine Minderheit der Autoren neuer Medien beraubt also die Autoren der alten Medien ihres Publikums.
So könnte man schlussfolgern, dass es weniger die Konkurrenz zwischen professionellen Einzelkämpfern und massenhaft kritisierenden Amateuren, sondern vielmehr das sinkende Interesse des Publikums an den klassischen Sparten des bürgerlichen Kulturbetriebs ist, das der Kritik eine schwere, bis an Grundfesten gehende Krise beschert hat. Dazu mutmaßte Elke Buhr (als Moderatorin im selben Panel wie Julia Grosse), dass das Interesse des Publikums vielleicht schon immer gefehlt habe. Sollte sie damit richtig liegen, dann läge die Differenz zwischen Früher und Jetzt eigentlich nur in der heute dank Tracking verfügbaren Messbarkeit des Misserfolgs, durch die der Nachweis der Relevanz des Kritikers erschwert wird.
Oder, um es mit Arnold Dreyblatt zu sagen, die Veranstaltung “Die Zukunft der Kritik” müsse eigentlich “Postkritik” heißen, denn die Kritik im traditionellen Sinne sei längst beerdigt bzw. alle Kongressteilnehmer würden sich so verhalten, als seien sie für eine Beerdigung zusammengekommen ─ das Ganze also ein Trauerfall, verursacht, “weil es kein Medikament gab”?
Die Paradigmen des Wandel
Es gab auch andere Einschätzungen. Sie verwiesen auf Kontinuitäten und verdeutlichten, dass der “cultural shift”, ausgelöst mit dem Auftritt der sozialen Medien, gar nicht so groß sei. Ganz in diesem Sinne erinnerte Christian Demand daran (im bereits erwähnten Panel “Das Urteil der Masse vs. Das Urteil der Experten”), dass es seit ihren Anfängen schon immer die Aufgabe der Kritik gewesen sei, Orientierung anzubieten und Komplexität zu reduzieren. Dies gelte eigentlich auch heute noch und wahrscheinlich auch für die absehbare Zukunft, zumal ja unsere Gesellschaft immer komplexer werde. Nun ja. Richtig ist, dass nach wie vor mit Erfolg Orientierung angeboten und Komplexität reduziert wird, tendenziell jedoch eher für die Spielarten der Pop- statt für die Sparten der Hochkultur. Zu den Paradigmen dieses Wandels gehört auf der Seite des Publikums die jederzeit entflammbare und zugleich recht bequeme Bereitschaft, sich überwältigen zu lassen, aber gewiss nicht die Kennerschaft des Connaisseurs, an deren sich über Jahre erstreckender Reifung die Kritik in gärtnernder Fürsorge beteiligt ist. Und gerade für den Kunstbetrieb, der ja (abweichend von anderen verarmenden Sparten) immer noch das überreichlich vorhandene vagabundierende Kapital anzieht, ist vielleicht nicht die Kritik klassischen Zuschnitts, ganz sicher aber Beratung gefragt, die in der Lage ist, die Wertzuwächse versprechenden Qualitäten im Marktangebot zu identifizieren. Was soll also das Gejammer?
Immerhin gelang es im Rahmen der Veranstaltung einzelnen Akteuren immer wieder, wesentliche Veränderungen nachzuzeichnen. So verwies Wolfgang Ullrich ergänzend darauf, dass Kunstkritik traditionell den Zugang zur knappen Ressource der Sichtbarkeit reguliere. Heute jedoch sei Sichtbarkeit nicht länger knappe Ressource, weil sie nicht mehr der exkludierenden Logik der Hochkultur, sondern den Algorithmen der Plattformen folge, die mit Sichtbarkeit belohnten, wo Interaktivität stattfinde. Die Frage, wie die Kunstkritik auf diesen Umbruch reagieren sollte, ist für Ullrich noch ungeklärt. Denn ob sie sich auf diese Entwicklung einlasse oder an der exkludierenden Ausrichtung (“Jetzt erst recht!”) festhalte, sei noch nicht entschieden.
Der Nachhall der documenta
Es müssen wohl tiefere, dunklere Strömungen sein, aus denen die “documenta fifteen” in vielen der Gesprächsrunden wie ein U-Boot auftauchte: in Nikita Dhawans Keynote gleich mehrmals und mit besonderem Nachdruck, als es um die Frage ging, ob Menschen wie sie, “coming from global south”, überhaupt in der Lage seien, den “german context” zu verstehen. Aufgeworfen worden sei diese Frage von Hito Steyerl mit ihrem Text “Kontext ist König, außer der deutsche”, seinerzeit im Zusammenhang mit der documenta als Gastbeitrag in der Zeit veröffentlicht. Dieser Text ließ Dhawan zu einem Schlag ausholen, den wir nicht vorenthalten wollen:
“We from the postcolonial south have to prove that we have the requisit qualifications to exercise critique, a birth right you automatically acquire with the german citizenship. The asymmetric ignorance is mind-boggling because artists like [Hito] Steyerl can be players in the global art market without ever having lived for a considerable period of time in the global south or learning any of its languages. And yet this does not disqualify their critical interventions on global issues. For instance my committment to fighting anti-Semitism not only in Germany but globally does not rest on some misguided or misplaced sense of german identity politics. I did not come to Germany to learn about genocidal anti-Semitism from persons with Nazi background.”
Womit sie auf die Verquickung der künstlerischen Arbeit Hito Steyerls mit Julia Stoscheks Stiftung anspielte. Dann erweiterte sie ihre Kritik und ging grundsätzlich auf den Zusammenhang zwischen Kunst und Politik ein:
“The problems risen by foreign policies are pushed to the cultural and aesthetic sphere and documenta is a case in point, so that [Bundeskanzler] Scholz can easily travel to Saudi Arabia and Qatar to pursue energy deals while in the german feuilletons artists like Steyerl discredit postcolonial studies and the global south for disregarding the german context. I would counterargue with Antonio Gramsci that there is an important link between foreign policy and the aesthetic sphere for this is precisely how cultural hegmony is produced.”
Wobei sie nicht vergaß, auch auf die Bundeskunsthalle als wichtigen Teil der deutschen “Soft Power” hinzuweisen. Die nun fühlte sich, bedingt durch den heftigen Angriff, genötigt, Hito Steyerl in Schutz zu nehmen. Mit dem Dank für “pulling the ground away” erinnerte Kolja Reichert, direkt nachdem Nikita Dhawan ihre Keynote beendet hat, an die persönlichen Erfahrungen Hito Steyerls mit rassistischer Diskriminierung aufgrund ihrer japanischen Abstammung, was Nikita Dhawan zu der Frage veranlasste, warum sich Hito Steyerl dann nicht mit den Greueltaten der Japaner als Kolonialmacht in China und Südostasien auseinandersetze. Bemerkenswert ist hier nicht nur, dass dies der einzige Beitrag des gesamten Symposiums ist, der im Nachgang von den Veranstaltern kritisch kommentiert wurde, sondern auch, dass dieser Teil des Geschehens zwar live gesendet, aber online nicht dauerhaft dokumentiert wird.
Nun gut. Dass sich untergründig Diskussionsbedarf über die documenta fifteen bemerkbar machte, zeigte sich auch an anderen Stellen. Hanno Rauterberg zum Beispiel sprach in einem der letzten Panels der Veranstaltung (“Das partizipative Kunstwerk”), in dem es um Partizipation ging, im Zusammenhang mit Taring Padi darüber, dass noch lange nicht klar sei, was für eine traumatisierende Erfahrung das Abhängen eines Kunstwerks sei. Da wird er wahrscheinlich recht behalten.
“It’s the economy, stupid”
Man will es kaum glauben, aber es ist ungefähr zwanzig Jahre her, dass als Begleiterscheinung der Begeisterung für den Neuen Markt und mit den Werbegeldern der dort gehandelten Start-ups Zeitungen und Zeitschriften nicht nur Woche für Woche trächtiger aussahen, sondern die Verlagshäuser einen neuen Titel nach dem anderen auf den Markt warfen. Bei Bäumen spricht man von Mastjahren, von denen man annimmt, dass sie einer Krise vorausgehen. Als der neue Markt zusammenbricht und 2003 geschlossen wird, ist die Krise da, natürlich nicht nur für die Investoren der “new”, sondern auch für die Medien der “old economy”: Treulos wandern die Werbetreibenden mit ihren Budgets aus dem Printbereich ins Internet ab. Die werbende Wirtschaft interessiert dabei offenbar wenig, ob und inwieweit die Medien eine besondere Verantwortung für die Demokratie tragen. Eigentlich ist es ja auch nur eine kleine Minderheit der Verlage, die so etwas wie kritischen Journalismus betreibt. Sollte man ihn befragen, müsste der große Rest einräumen, dass er Teil eines überalterten, zum Gebietsmonopolismus tendierenden Geschäftsmodells ist, das mit dem Postulat, die Presse sei die vierte Säule der Demokratie, sein Gewinnstreben verschleiert. Hier kündigt sich ein Wandel an, der immer stärker ins Rollen kommt, weil es an schlüssigen Antworten auf die Herausforderungen des “Web Zwo Null” und des “citizen journalist” fehlt.
Was hat das mit “Die Zukunft der Kritik” zu tun? Leider nicht viel, denn es kam in den Panels nicht vor ─ abgesehen Caroline Bustas und Lil Internets Keynote. Obwohl von dem hier angerissenen Geschehen natürlich auch die Kunstkritik betroffen war und immer noch ist. Zunächst weil weniger Platz für Kritik verfügbar ist: Die Hefte werden dünner und die Hörfunkformate zu “Formatradio” gestreamlined (oder gleich wegformatiert). Ausgehend von den Geschäftsführungen und Chefredaktionen macht das Wort vom “Lesernutzen” die Runde, durch den die Publikumsbindung gestärkt werden soll. Plötzlich durchziehen Stacheldrahtzäune die vormals freien Prärien. Hinzu kommt die Überalterung des Publikums der “legacy media”: Die Zahl jüngerer Tageszeitungsleser nimmt rapide ab, “Jugendsender” wie EinsLive hören immer weniger Jugendliche, der Trend geht eher in Richtung “50plus”.
Das alles wirkte sich auf die Kritik aus und tut es immer noch, weil keine der hier angerissenen Entwicklungen durch neue Konzepte nachhaltig beeinflusst, geschweige denn gestoppt werden konnte. Oder: Man erinnere nur kurz den auf den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bezogenen, daher sachgemäßen und dennoch folgenlosen Protest freier Mitarbeiter im Januar 2021 gegen den Wegfall der täglichen Buchbesprechung in “WDR3 Mosaik”. Dass die Zahl der Plätze, auf denen rezensiert wird, für die Sparten der E-Kultur abgenommen hat, ist anhand weiterer Beispiele leicht nachweisbar und entspricht der alltäglichen Erfahrung derjenigen, die auf diese Reviews angewiesen zu sein glauben.
“It’s the economy, stupid.” Man kann vor diesem Hintergrund in Versuchung geraten, die ganze Veranstaltung mit diesem Zitat abzutun. Denn leider waren Ökonomie und Strukturpolitik, die unter neoliberalen Vorzeichen unsere Medienlandschaft umgepflügt und damit die öffentliche Sphäre grundlegend verändert haben, neben allen übrigen Themen in der Veranstaltung “Die Zukunft der Kritik” nur zweitrangig.
Die Zukunft der Kritik
Zu beklagen ist auch, dass in fast allen perspektivischen Gesprächsrunden unklar blieb, woher die Rettung aus der Krise kommen oder was das Neue sein könnte, dass der Kritik die Aktualisierung ihrer Position im öffentlichen Raum ermöglicht. Eine Zukunft, in der es nicht mehr nötig ist, dass uns eine Nikita Dhawan in Sachen Interkulturalität und Dekolonisierung die Leviten liest. Fragen muss man sich auch, ob nicht die Vielzahl der Panels einer etwas zu musterschülerhaften Planung und Gestaltung geschuldet war, die “Fehler” durch Weglassen von Themen um jeden Preis vermeiden wollte. Das wäre dann Vorsicht, vielleicht sogar eine Art von Ängstlichkeit, die als gewissermaßen positive Variante des Virus “cancel culture” betrachtet werden müsste. Bei aller Kritik sollte man allerdings die riesenhafte Anstrengung, die wahrscheinlich nötig war, um eine Veranstaltung solchen Ausmaßes möglich zu machen, nicht aus dem Blick verlieren.
Ach ja, es gab etwas, dass trotz der ungezählten Gesprächsrunden nicht vorkam: Das Thema KI fiel komplett aus. Dass ChatGPT möglicherweise den einen oder anderen Kritiker um seinen Arbeitsplatz bringen wird, schien keiner der Beteiligten zu fürchten.
Empfehlungen:
Wir nennen hier eine Auswahl aus den unter https://www.bundeskunsthalle.de/kritik.html veröffentlichten Dokumentationen einzelner Teile der Veranstaltung “Die Zukunft der Kritik”, seien es Panels, Keynotes oder andere Beitragsformen, die für uns besonders eindrucksvoll und wichtig waren. Dies soll nicht heißen, dass diejenigen Teile der Veranstaltung, die hier nicht genannt werden, weitere Aufmerksamkeit nicht verdienen.
Keynote von Caroline Busta (New Models, frühere Chefredakteurin der Zeitschrift “Texte zur Kunst”) und Lil Internet (New Models, Musikproduzent): Sollte man sich anschauen, allein schon deshalb, weil in vielen der folgenden Panels auf diese Keynote Bezug genommen wird.
Das Urteil der Masse vs. Das Urteil der Experten mit Christian Demand (Merkur), Julia Grosse (Contemporary And), Wolfgang Ullrich (bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Autor), Moderation: Elke Buhr (Monopol): Interessant und wichtig, weil der Rahmen des Veranstaltungsthemas abgesteckt wurde.
Keynote von Nikita Dhawan (Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte): Übt scharfe Kritik an der neokolonialistischen Perspektive des des kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrundes, vor dem die Veranstaltung stattfindet.
Zur Dekolonisierung des Kunsturteils mit Eric D. Clark (Künstler, Komponist und Produzent), Marcel Odenbach (Künstler), Noemi Smolik (Kunstkritikerin), Julia Wissert (Direktorin des Schauspiels Dortmund), Moderation: Jörg Heiser (Kunstkritiker und Kurator): Hochinteressantes Panel, in dem es um deutschen Kolonialismus, Rassismus, aber auch um die west- und mitteleuropäische Ignoranz gegenüber der osteuropäischen Kunst- und Kulturgeschichte geht.
Das partizipative Kunstwerk mit Torsten Michaelsen (Ligna), Hanno Rauterberg (Die Zeit), Dorte Lena Eilers (Professorin für Kulturjournalismus, Moderation), und Christine Wahl (Theaterkritikerin, Moderation). Sehenswert, weil es in diesem Panel in besonders interessanter Weise um das Spannungsverhältnis von Kunst und Publikum ging.