Foto: Thomas Köster

Der Welten-Falter

Einsam schuf der Einsiedler Erwin Hapke einen Kosmos aus Hundertausenden von Papierfiguren

35 Jahre lang erfaltete sich der promovierte Biologe Erwin Hapke in seinem Elternhaus in Fröndenberg bei Unna in völliger Abgeschiedenheit eine eigene Welt aus Hunderttausenden Figuren in Papier und Blech. Das Haus verließ er dabei nur wenige Male. Ab März erinnert eine Ausstellung in Kevelaer an den Künstler und sein Gesamtkunstwerk, flankiert von einem Foto-Buch. Und eine Website gibt dann dem inzwischen leergeräumten Haus als virtuelles 360-Grad-Museum im Internet eine neue Heimat.

Hinter der unscheinbaren Haustür einer ehemaligen Schule in einem kleinen Dorf im Kreis Unna lagerte, von der Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt, über vier Jahrzehnte lang ein unglaublicher Kunstschatz. Er konnte in dieser Fülle nur entstehen, weil sich der Bewohner Erwin Hapke seinen Plan, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, über 35 Jahre lang mit ungeheurer Präzision, Geduld und Beharrlichkeit verfolgt hat.

Drinnen erwarteten den Besucher schon im Hausflur schier unübersehbare Mengen an gefalteten und geschnittenen Figuren, die teils mit simplen Klebestreifen auf Karton an die Wand geklebt waren: Variierte Grundformen von rätselhaften Mustern, die man auch nach längerer Betrachtung nicht richtig durchschauen konnte. Über drei Etagen hatten diese teils einfarbigen, teils bunten Objekte das Schulhaus seit den frühen 1980er Jahren in Besitz genommen – und so die Räume zu einem Gesamtkunstwerk gemacht. Zugleich waren sie Dokumente einer Lebensgeschichte, die vermeintliches biografisches Scheitern in überaus lebendige Kunst verwandelt hat.

“Außenseiterleben als gefaltete Zeit”

Ihr Schöpfer Erwin Hapke war ein promovierter Biologe am Max-Planck-Institut für Zellbiologie in Wilhelmshaven, der in den 1970er Jahren seinen Job verlor und sich, völlig verarmt, ins elterliche Haus bei Unna zurückzog – versorgt von der Schwester, die ihm aus dem Nachbarort Lebensmittel brachte. Entdeckt wurde der Werkkomplex nach der Beerdigung Hapkes im April 2016 von seinem Neffen, dem Kölner Bildungsphilosophen Matthias Burchardt. Auch von ihm hatte sich der Künstler plötzlich zurückgezogen. “Bestürzend und faszinierend zugleich” sei der Fund gewesen, sagt Burchardt: “ein ganzes Außenseiterleben als gefaltete Zeit”.

Seinen Onkel beschreibt Burchardt als Universalgelehrten, der zeitweise einen Raben auf der Schulter trug und mit dem er über alles Erdenkliche habe reden können. Als es ihm gesundheitlich immer schlechter gegangen sei, habe er sich auch medizinisch versorgt, wie er es in Büchern gelesen habe, weil er weder sozial- noch krankenversichert gewesen sei. In der Hausbibliothek des Onkels fanden sich auch Bücher auf Japanisch. Vielleicht hat er sich auch die klassische Sprache der Papierfaltkunst in den Tagen des Alleinseins selbst beigebracht. Mit traditioneller Origami haben seine Werke aber nur bedingt zu tun: Schere und Schachtelungen waren in seinem Werk nicht verboten.

Neue Heimat in der Kunst

Vielmehr ging es Hapke offensichtlich darum, aus einem Repertoire möglicher Faltungen Grundformen herauszubilden, die dann in immer neuen Varianten genutzt und in immer neuen Serien zusammengestellt werden konnten – eine Arbeit mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch, die den Biologen und Künstler Hapke zusammenbrachte.

Überhaupt waren viele Inszenierungen im Hause biografischer Natur. Wie die zahlreichen Dorfarchitekturen aus Papier, in denen sich der 1937 geborene Hapke nicht zuletzt die Kindheit jenes Hofs in Ostpreußen “zurückerfaltete”, von dem er mit der Mutter und den drei jüngeren Geschwistern 1945 vor der Roten Armee geflohen war. Als Außenseiter und Flüchtling musste er sich auch später empfunden haben: Mit Steinen beworfen und als “Russen” beschimpft, lebte die Familie noch lange in Flüchtlingsunterkünften in Süddeutschland und im Kreis Unna, bis sich die Familie 1965 das ehemalige Schulhaus im Kreis Unna – und damit ein erstes Stück neuer Heimat – kaufte.

Mischwesen aus Metall – und Computerkunst

Bei allen biografischen Bezügen entziehen sich die Faltfiguren, die zum Teil in riesigen Wimmel-Tableaus gruppiert waren, einer eindeutigen Interpretation. Letztendlich sollte es dem Betrachter selbst überlassen sein, hier Ordnung und Sinn zu schaffen. Das gilt auch für jene seltsamen Mischwesen aus Metall, die den Dachboden bevölkerten. Kraftvolle, dynamische, teils monströse Figuren, die davon zeugen, dass Hapke, der vor seinem Biologiestudium eine Schlosserlehre machte, auch die nicht gerade triviale Blechfaltung beherrschte. Andere Figuren, die mit ihren Kopftüchern an ostpreußische Bäuerinnen oder Ordensschwestern erinnern, scheinen der verlorenen Zeit buchstäblich hinterher zu trauern.

Mindestens ebenso faszinierend wie die Faltobjekte aus Papier und Metall sind die filigranen Zeichnungen, auf denen Hapke abstrakte Muster und seltsame Roboterwesen festhielt: ein frühes Beispiel für Computerkunst. Auch sie sind, auf Papier oder Folie, zu Hunderten in über das Haus verteilten Stapeln zu finden.

Haus sollte Museum werden

Zu einigen Exemplaren seiner Faltkunst hat Hapke detaillierte Gebrauchsanweisungen gezeichnet, die offenbar auch zur Veröffentlichung bestimmt waren. Darüber hinaus fanden sich im Haus Stapel an Blättern, die in allen nur erdenklichen Weisen “vorgefaltet” waren. Für Faltkunst-Schüler, zu Übungszwecken? Denn Hapke plante, sein Wohnhaus nach seinem Tod als Museum der Öffentlichkeit preiszugeben. Hierzu gab es Ansätze einer Besucherführung durch Beschilderungen (“Toilette 2” – “privat”).

Erwin Hapke erfror im April 2016 nach einem Sturz im eigenen Haus. Nach der Entdeckung seines Gesamtkunstwerks bemühte sich ein Team aus Künstlern und Kunsthistorikern vergeblich, den Nachlass zu sichten, dokumentieren und für die Nachwelt aufbereiten. Auch gelang es der Familie nicht, das Haus der von Hapke gewünschten musealen Bestimmung zuzuführen: das Interesse der örtlichen Politik, vor Ort enthusiastisch vorgetragen, erlahmte schnell. 2022 musste das Haus komplett leergeräumt werden. Die filigranen Faltwerke wurden in der Scheune in der Eifel zwischengelagert. Das Gesamtkunstwerk war verloren.

Ausstellung, Fotobuch – und eine 360-Grad-Rekonstruktion

Eigentlich hatte Erwin Hapke verfügt, dass seine Faltungen das Haus nicht verlassen dürften: Für Ausstellungszwecke müssten sie Eins zu Eins nachgefaltet werden. Im Niederrheinischen Museum in Kevelaer sind jetzt trotzdem zahlreiche Originale des Künstlers aus Papier und Blech ausgestellt, die von seiner Meisterschaft zeugen – parallel zum graphischen Werk Heinz Henschels, der 2016 mit 77 Jahren verstorben ist.

Beide Künstler verbindet, dass sie ihr Werk unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Geheimen produzierten und nach ihrem Tod zwei Nachlassverwalter fanden, die die Qualität ihrer Arbeit erkannten – wobei Hapke ein intellektuell klares, der Konzeptkunst zuzuordnendes Ganzes schuf, während Henschels Kosmos ungleich farbenfroher, opulenter, phantastischer – und auch wesentlich dekorativer – daherkommt. Sehenswert sind beide Positionen.

Die Ausstellung “Verschwiegenes Schaffen – Werk im Schatten. Die Künstler Hapke und Henschel” ist noch bis zum 23. Juni 2023 im Niederrheinischen Museum in Kevelaer zu sehen.

Begleitend zur Ausstellung ist im Verlag Kettler das Fotobuch „Erwin Hapke. Welten-Falter“ des Kölner Fotografen Thomas Köster mit einem Geleitwort von Matthias Burchardt erschienen (144 Seiten, 38 Euro, ISBN 3987410396). Köster war der erste Fremde, der das Haus kurz nach Hapkes Tod im Auftrag des WDR betreten durfte. Die daraus resultierende Fotostrecke wurde in den ersten drei Tagen zwei Millionen Mal geklickt: Beleg dafür, wie stark Kunst & Leben Erwin Hapkes auch heute noch berührt. Eine folgende Multimedia-Reportage für den Grimme Online Award 2017 nominiert.

Website des niederrheinischen Museums in Kevelaer: https://niederrheinisches-museum-kevelaer.de/

Erwin Hapke im Blog KunstArztPraxis.de:
Erwin Hapke: Welten falten – https://kunstarztpraxis.de/welten-falten-erwin-hapke/
Erwin Hapke: Das Ende eines Gesamtkunstwerks – https://kunstarztpraxis.de/erwin-hapke-tod-eines-gesamtkunstwerks/