Cindy Sherman, Untitled #602, 2019. Sammlung Gilles Renaud. © Cindy Sherman

Die Schönen und die Reichen

Die Stuttgarter Staatsgalerie beleuchtet Cindy Shermans Beziehungen zur Modewelt.

Das Kapital ist eine gefräßige Maschine. Es verschlingt, wie Luc Boltanski und Ève Chiapello gezeigt haben, noch jede Rebellion und macht daraus wieder ein käufliches Produkt. Nichts könnte diesen Prozess besser illustrieren als Cindy Shermans Anti-Fashion – so der von der Künstlerin selbst gewählte Titel ihrer Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie. Denn der Kapitalismus basiert, nachzulesen bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, auf dem Begehren oder dem Wünschen, wie désir auch übersetzt wird. Und das Paradebeispiel dafür ist die Mode.

Als Sherman, Mitte der 1970er-Jahre bekannt geworden durch ihre fotografischen Rollen-Selbstporträts, 1984 erstmals einen Auftrag eines Mode-Labels, der Marke Dorothée Bis annahm, wollte sie schockieren. Laszive, vulgäre Posen, Gesichter bleich wie Junkies, das Model als Gliederpuppe, ein Pickelgesicht, heraushängende Brust-Attrappen. Das Bild, das die Staatsgalerie aus dieser Serie besitzt, ist vergleichsweise harmlos, etwas befrendend allenfalls das bleiche, stumpf vor sich hin starrende Gesicht. Die Zeitschrift Vogue veröffentlichte die Fotos nicht. Doch schon bald begann die Mode solche provokanten Posen zu adoptieren. Und Sherman, die den Zirkus der Modewelt hatte hinterfragen wollen, war auf einmal als Modefotografin gefragt.

Interaktion mit der Haute Couture

An Cindy Sherman lässt sich vieles zeigen: der Wandel von der analogen, kleinformatigen Schwarzweißfotografie ihrer ersten Jahre zu den Anfang der Achtziger möglich gewordenen großformatigen Farbabzügen; oder die heute viel diskutierte Gender-Thematik, da sie mit ihren Selbstporträts vorgegebene Rollenbilder hinterfragt. Aber diese Gesichtspunkte sind schon oft thematisiert worden. Als sie vor zwei Jahren den Auftrag bekam, eine Ausstellung über Sherman zu kuratieren, erzählt Alessandra Nappo, war sie nicht restlos begeistert. War nicht alles schon gesagt? Sie arbeitete sich ein und fand schließlich einen neuen Blickwinkel: die Modefotografie. “Mir war gar nicht klar”, muss selbst Staatsgalerie-Direktorin Christiane Lange gestehen, “dass bei den Clowns und Partygirls eine Interaktion mit der Haute Couture stattfindet.” Shermans Clowns entstanden 2003 im Auftrag der British Vogue, die alternden Partygängerinnen in Kostümen des Labels Balenciaga 2007/08 für die Zeitschrift Pop One.

Bei näherer Betrachtung könnte man freilich zu dem Ergebnis gelangen, die Künstlerin hätte es von vornherein auf eine Zusammenarbeit mit der Modewelt angelegt. Denn schon 1976 veränderte sie, damals noch in Schwarzweiß, die Covers von Zeitschriften wie Vogue, indem sie den Lippenstift intensivierte, den Mund öffnete und mit den Augen zwinkerte, so als wollte sie den Betrachter direkt ansprechen. Aus derselben Zeit zeigt die Ausstellung einen abgehackten Film, in dem sie als Anziehpuppe verschiedene Kleider anprobiert, bis eine große Hand sie packt und in Unterwäsche in eine Plastikhülle zurücksteckt.

Von diesen ersten Anfängen ausgehend, zeichnet die Ausstellung die verschiedenen Stationen von Shermans Zusammenarbeit mit der Modewelt nach. Auf die provokativen Bilder der 1980er-Jahre und die Clowns und Partygirls folgen acht großformatige Bilder aus der Serie Men für die erste Männerkollektion von Stella McCartney, der Tochter des Beatles-Gitarristen: androgyne Figuren in männlichen Posen, breitbeinig, Hände in der Hosentasche, die Hand im Besitzergestus auf die Schulter einer zweiten, diesmal als weiblich gedachten Person legend, die ebenfalls Sherman verkörpert, sodass aufgrund der Ähnlichkeit ein Irritationsmoment entsteht.

Fotos wie Leinwandgemälde

Aber von den rebellischen Gesten der ersten Mode-Arbeiten ist hier bereits nichts mehr übrig. Dargestellt sind Männer und Paare der Oberschicht: Mit blasiertem Gesichtsausdruck posiert einer vor einer symmetrischen Parkanlage, und auch das Porträt der jungen Frau im leuchtend gelben Kostüm, das auf seinem T-Shirt unter einem hellbraunen Mantel hervorschaut, kann nicht wirklich provozieren. Sherman geht so weit, die barocke Porträtmalerei zu imitieren, wenn ein junger Adliger historisierend im Seidenbrokat auf einer Terrasse vor der Kulisse einer mediterranen Bucht steht, vielleicht des Golfs von Neapel. In einem anderen Bild, auf dem männliche und weibliche Figuren kaum zu unterscheiden sind, verdoppelt sie die Gesichter leicht vergrößert in den Violetttönen des Waldhintergrundes: ein Effekt der digitalen Bearbeitung, die sie in der Clowns-Serie erstmals genutzt hat. Die Fototechnik, die Gender-Thematik spielen also auch hier eine Rolle. Doch von „anti“ kann kaum noch die Rede sein. Eher könnte man von einer auratischen Überhöhung sprechen.

Wenn sich dies noch steigern lässt, so tut Sherman dies in der 2010 entstandenen Serie Landscapes. Die breiten Formate erinnern nun noch mehr an Leinwandmalerei. Für die landschaftlichen Hintergründe ist die Künstlerin von Insel zu Insel gejettet: New York Shelter Island, Island, Capri, Stromboli – Tourismus vom Feinsten in Kostümen aus dem Archiv der Marke Chanel. Um die kostbaren Stücke nicht zu beschmutzen, so will es die Legende, hat sie diesmal kein Makeup aufgelegt und stattdessen die Aufnahmen digital nachbearbeitet.

Dass es sich bei den Kleidungsstücken um Wertobjekte handelt, lässt das Magzin Harper’s Bazaar in einem Artikel zum Project Twirl seine Leserinnen durchaus wissen. Zwischen rund 4.000 und mehr als 20.000 Dollar kostet, was die Künstlerin auf den Fotos am Leib trägt. Es soll eine Satire auf Instagram-Fotos von Models sein, die im öffentlichen Raum posieren: etwas, das Sherman, die im Studio arbeitet, normalerweise fernliegt. Aber wer sagt, dass die Aufnahmen im Freien entstanden sind? Das Motiv, das die Ausstellung ankündigt – etwa: Sherman im grünen Gucci-Kostüm mit extravaganter Brille vor dem verwischten Hintergrund einer barocken Kirche und eines Oldtimers – zeigt der Artikel in Harper’s Bazaar in identischer Form vor der Fassade eines barocken Palazzo, vor dem sechs Männer mit aufgespannten Regenschirmen stehen. Die verwischten Hintergründe sind kunstvoll bearbeitet. Farbsublimationsdruck auf Aluminiumträger nennt sich das.

Von der Modewelt vereinnahmt

Sind die hier dargestellten Figuren “Opfer von Schönheitsnormen und Verhaltensmustern”, wie es in einer Ankündigung der Hamburger Deichtorhallen heißt, wo die Ausstellung ab Oktober zu sehen sein wird? Natürlich sind auch die Gutsituierten in gewisser Weise Opfer der Rollenmodelle, denen sie nacheifern. Aber es zwingt sie niemand dazu. So wie niemand Cindy Sherman zwingt, in 20.000-Dollar-Klamotten zu posieren. Fashion Victims hatte Alessandra Nappo zunächst als Titel vorgeschlagen. Das gefiel der Künstlerin nicht. Die Modewelt, die sie mit ihren lasziven Gesten einmal provozieren wollte, hat Sherman längst vereinnahmt. Die Frage, die die Ausstellung aufwirft, aber nicht stellt, lautet: Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen der Kunst und der Modefotografie? Die Fotos, die für Vogue oder Harper’s Bazaar aufgenommen worden sind, hängen an den Wänden wie Leinwandgemälde. Ihre Verwendung auf den Covers, in den Magazinen wird separat, quasi als Anhang im Graphikkabinett gezeigt. Aber ist Modefotografie Kunst? Oder ist Kunst, soweit es sich um den Kunstmarkt handelt, auf dem Sherman für einzelne Werke Millionen erlöst, auch nichts anderes als eine Mode?

Alessandra Nappo ist mit der Ausstellung gleichwohl ein Coup gelungen. Schon beim ersten Anruf in New York, so erzählt sie, zeigte sich Sherman begeistert. Die Materialien im Graphikkabinett, angefangen mit einer von ihr gestalteten Ausgabe von Andy Warhols Lifestyle-Magazin Interview, stammen sämtlich aus dem Besitz der Künstlerin und sind noch nie öffentlich gezeigt worden. Sherman und die Mode: Diesem Thema war bisher noch keine Ausstellung gewidmet, was wiederum die Deichtorhallen und das Fotomuseum Antwerpen bewogen hat, sie anschließend leicht abgewandelt zu übernehmen. Nur so sei es gelungen, die Kosten zu stemmen, betont Christiane Lange. Die Transportkosten seien um 60 Prozent gestiegen. Und aus der eigenen Sammlung des Hauses stammt nur ein Werk. Zwar besitze die Staatsgalerie vier weitere, fügt Nappo hinzu, doch die hätten nicht zum Thema gepasst.