Refik Anadols “Machine Hallucinations” im Kunstpalast Düsseldorf
Refik Anadol ist längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Seit er an verschiedenen türkischen und amerikanischen Hochschulen seine Ausbildung absolviert hat, die aus ihm statt eines bildenden Künstlers genauso gut einen Designer hätte machen können, ist er immer wieder an die Öffentlichkeit getreten. Bereits 2010 war er zum ersten Mal in Deutschland – damals noch als Teilnehmer einer Gruppenausstellung im Marta Herford, die sich unter dem vielsagenden Titel “Spagat” dem Ziel verschrieb, einen Überblick über die “gerade entstehende und extrem aufregende, bisher total übersehene und unbekannte Istanbuler Design-Szene” zu liefern. Ungefähr ab der Mitte des vergangenen Jahrzehnts bewegte er sich zunehmend auf internationalem Parkett, nun nicht länger im Design-, sondern immer häufiger in anderen Zusammenhängen, wozu auch der Kunstbetrieb gehörte. Nach und nach statt U also gelegentlich auch E, wobei sich U gerade in Deutschland 2017 noch einmal lautstark meldete, denn in diesem Jahr wurde Refik Anadol für seine Arbeit “Infinity Room” mit dem German Design Award geehrt.
Dies alles vor Augen, darf man sich zunächst wundern, dass es über die Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast in der Tagespresse hieß, sie sei die “vierte Station” des Künstlers, nach den Shows in Davos (Weltwirtschaftsforum), Los Angeles (Grammy-Verleihung) und New York (Museum of Modern Art). Na klar, so gerät Düsseldorf zwar in eine Reihe mit Orten von weltweitem Bekanntheitsgrad und der Kunstpalast in die Nähe eines “early adopters”, aber falsch ist es dennoch. Es sei denn, man nimmt die “vierte Station” als eine Art von Mimikry, hinter der die Überraschung verschwinden kann, die – auch das ist klar – die Begegnung mit Refik Anadols Schaffen durchaus hervorrufen kann.



Denn seine Schöpfungen hinterlassen dort, wo sie gezeigt werden, garantiert einen ebenso starken wie positiven Eindruck. Warum das so ist und wie das funktioniert, wird verständlich, wenn man den Hintergrund etwas genauer ausleuchtet, vor dem die Shows des Künstlers stattfinden. Nehmen wir mal etwas ganz anderes, zum Beispiel die Vermeer-Ausstellung, die zurzeit alle Besucherrekorde bricht. Gewiss gibt es auch dort Überraschungen, aber innerhalb eines bekannten Framings: Es wird niemanden verblüffen, dass es sich bei den Exponaten im Rijksmuseum um mit Ölfarben hergestellte, gerahmte Tafelbilder handelt, die nicht übermäßig groß sind und stilgeschichtlich der niederländischen Malerei zugeordnet werden können. Bei Refik Anadol ist das anders. Die meisten kunstinteressierten Mitmenschen hatten noch nicht das Vergnügen, eine seiner Arbeiten zu sehen, konnten allerdings irgendwo lesen, dass sie etwas mit KI zu tun haben. Aber wer weiß schon, was KI ist? Und selbst wenn man das weiß, ist keineswegs sichergestellt, dass der Kunstbetrieb für das, was Anadol uns zeigt, wenigstens eine begriffliche Schublade anbieten kann. Auch wenn seine Arbeiten bereits seit einigen Jahren in den Kunstmuseen dieser Welt gezeigt werden, bleibt es dabei, dass seine Popularität gar nicht so sehr mit diesem Inbegriff bürgerlicher Kultur, sondern vielmehr mit dem verbunden ist, was wir gern als “Event” kategorisieren: einem flüchtigen Ereignis also, zu dessen DNA die Möbelmesse genauso wie die Modenschau, in jedem Fall aber die Bereitschaft, der Wille und die technische Fähigkeit gehören, die Besucher zu überwältigen. Und etwas absolut Neues anzubieten. Vergessen wollen wir auch nicht, dass wir uns bis vor Kurzem noch gar nicht sicher waren, ob Digitales überhaupt Kunst sein kann. Dass das so ist, wissen wir mit Gewissheit erst, seit es Beeple, XCopy oder Pak dem Kunsthandel beigebracht haben.
Im Bällebad
Und wenn man nun die Ausstellungsräume des Kunstpalasts betritt und tatsächlich Anadols “Machine Hallucinations” zu sehen bekommt?
Sollte die Annahme berechtigt sein, dass die Zahl der Ausstellungen, die digitale Kunstwerke zeigen, zunehmen wird, dann heißt dies auch, dass wir in den Museen und in anderen Ausstellungseinrichtungen häufiger dunkle Grotten betreten müssen, um der selbstleuchtenden Bildflächen teilhaftig zu werden, auf denen sich ein Teil der Kunst in Zukunft abspielen wird. Die Tage der Alleinherrschaft heller Rationalität, des white cube also, wo Kunst auf sich selbst verweisen und ihre Autonomie betonen kann, indem sie ihre Umgebung in radikaler Weise reduziert, aber eben nicht im Dunkel verschwinden lässt, die scheinen gezählt zu sein.
In den Räumen des Kunstpalasts, in denen insgesamt drei Arbeiten Anadols gezeigt werden, fällt zunächst auf, dass das Publikum jede Zudringlichkeit vermissen lässt und sich nicht um die Bilder schart, sondern Abstand hält. Es drängt sich eingeschüchtert an die Wand, die der Projektionsfläche gegenüberliegt. Deutlich sind immer wieder unwillkürliche Laute der Verblüffung und des Erstaunens zu hören. Und wenn man den Blicken Richtung Projektionsfläche folgt und sich selbst ein Stückchen in Richtung Licht dreht, dann hört man schon nach kurzer Zeit das eigene “Booaahhh!”.
Dem voraus geht eine kurze Phase kognitiver Orientierung. Bewegung, das ist klar, aber ohne vorhersehbare Determinierung, in alle Richtungen, fast wahllos, würden sich nicht doch immer wieder wellende und schwappende Formationen bilden, wobei die Formungen ständig die Farben wechseln. So sucht das Auge zunächst einen Halt, irgendeinen festen Grund und beginnt, das Sichtbare zu analysieren: Das, was bewegt wird, sind Kugeln, die sich nach Regeln, die von einem Algorithmus vorgegeben werden, zu instabilen, gleich wieder zerfallenden Gebilden verbinden und währenddessen die Farbe wechseln können. Das Ganze findet in einer Art Box statt, die auf eine ihrer Seitenflächen gestellt und zum Publikum hin offen ist. Dass es sich um ein kastenförmiges Gebilde handelt, in dem die Bewegung stattfindet, ist in gewisser Weise beruhigend, denn wenn eine der Wellen über die Grenzen des Kastens hinausschwappt, verschwindet sie an der Schnittkante einfach im Nichts. Immerhin zeigt sich hierin eine Parallele zum vertrauten Tafelbild, dessen Bildfigur ja auch hin und wieder den Bildrand überschneiden kann, ohne uns darüber Aufklärung zu verschaffen, was jenseits dieser Demarkationslinie passiert. Zumindest in dieser Hinsicht ist Refik Anadol also ein Kind europäischer bildnerischer Traditionen.
Die “Datenskulptur”, von der hier die Rede ist, trägt den Titel “Machine Hallucinations – Satellite Simulations: B” und entstand im Jahr 2021. Wir erfahren aus dem Pressetext, dass Anadol für diese Arbeit zwei Millionen Bilder verwendet hat, die von verschiedenen Weltraumteleskopen erfasst und anschließend mit “GAN-Algorithmen” weiterverarbeitet wurden. Gewiss ist die Frage, wie und wobei diese Informationen weiterhelfen könnten, müßig, denn weitergehende Erklärungen würden wahrscheinlich den zumutbaren Rahmen sprengen. Auch an anderer Stelle wird auf Erklärungen verzichtet: Im Kunstpalast sieht man nicht nur, sondern hört auch etwas – einen Klang, orgelartig schwebend, mit geringer Modulation. Vielleicht wird er von den Algorithmen ohne viel Federlesens gleich miterzeugt, möglich ist aber auch, dass sich ein menschliches Wesen an einen Synthesizer gesetzt hat, um die Begleitmusik zu erzeugen.
Irritierend ist auch, dass oberflächliche Recherchen im Internet genügen, um auf weitere Datenskulpturen Anadols zu stoßen, die ebenfalls “Machine Hallucination” heißen, aber offenbar auf einer anderen Datenbasis als die Düsseldorfer Halluzination entstanden sind. Johann König zum Beispiel hat bereits im November 2021 in seiner Berliner Galerie eine Variante präsentiert, von der es heißt, dass ihr nicht Weltraumbilder, sondern Naturfotografien zugrunde lägen. Was hier als Skulptur bezeichnet wird, scheint also eine Software zu sein, die, je nachdem, mit welcher Art von Bildmaterial sie “gefüttert” wird, verschiedene Arten von Output liefern kann. Eine weitere Variante zeigte Refik Anadol in München anlässlich der DLD 22 (Digital Life Design) im Mai des vergangenen Jahres, und wenn man an dieser Stelle weiterrecherchiert, verstärkt das die Mutmaßung, dass Kunst für den “Data Artist” Refik Anadol eben doch nur ein Nebenkriegsschauplatz ist. Die anderen Schauplätze hat er beileibe nicht hinter sich gelassen – man trifft ihn überall dort, wo es um das Thema Zukunft geht. Der Kunstbetrieb ist nur eine von mehreren Möglichkeiten.
Viele dieser Möglichkeiten sind im Internet dokumentiert. Es ist also nicht nur im Düsseldorfer Kunstpalast erkennbar, wie die Rahmenbedingungen aussehen, die Anadols Arbeiten sich selbst schaffen. Anders als die Tafelbilder Vermeers, von denen hier anfangs die Rede war, aber auch anders als viele zeitgenössische Kunstwerke, vertragen sie keine anderen Kunstwerke neben sich. Sie werden also nicht in Räumlichkeiten ausgestellt, die den Betrachter vor eine Wahl stellen, was ihnen eine gewisse Übermacht verleiht. Daher können Anadols Werke auf die auf einer Entscheidung beruhende Mitwirkung des Betrachters verzichten; sie sind auf seine Bereitschaft, sich einzulassen und zu versenken, nicht unbedingt angewiesen. Stattdessen können sie darauf vertrauen, dass sie, solange sie konkurrenzlos gezeigt werden, die Kraft besitzen, das Publikum in ihren Bann zu schlagen und für begrenzte Zeit gefangen zu setzen. Das kann man gutheißen oder auch nicht, es ist aber klar, dass diese besondere Form der Präsentation Tendenzen zeigt, die auch auf Sakralräume zutreffen.
Bei allem, was man Anadols Datenskulpturen zugutehalten kann – es bleiben Vorbehalte in Anbetracht eines Auftritts, der seine Magie dem Versprechen “Hier werden Wunder Wirklichkeit!” verdankt. Die entsprechenden Laute der Verblüffung beim umstehenden Publikum und die sich in Bruchteilen von Sekunden einstellende Bereitschaft, sich überwältigen zu lassen, ergeben so etwas wie eine zeitgemäße Erbauungskunst, die ihre Nähe zum Event nicht unterschlagen kann. Trotzdem: Es macht Spaß, sich Anadols Arbeiten anzuschauen. Dass der Kunstpalast seine Aufgabe, Anadols Arbeiten zu zeigen und zur Diskussion zu stellen wahrnimmt, und trotz der mit KI verbundenen Risiken auf die übliche fürsorgliche Begleitmusik verzichtet, ist ein besonderes Verdienst dieser Ausstellung.
Nachtrag: Außer “Machine Hallucinations” werden im Kunstpalast zwei weitere Datenskulpturen Refik Anadols gezeigt: Es sind “Nature Dreams – Generative Landscapes” und das Tryptichon “Forest Pigmentations”.