Ausschnitt aus: Chaïm Soutine, La Place du village, Céret / Dorfplatz in Céret / Village Square at Céret, 1920 Oil on canvas / Öl auf Leinwand. The Israel Museum, Jerusalem © The Israel Museum, Jerusalem by Avshalom Avita.

Wer hat Angst vor Chaïm Soutine?

Chaïm Soutine. Gegen den Strom, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, 2.9.2023 bis 14.1.2024.

Von wankenden Landschaften und geschlachteten Tieren war zu dieser Ausstellung die Rede, von Zeugnissen eines zerrissenen Lebensgefühls und einer Existenz am Rand der Gesellschaft. Der abwehrende Blick des Künstlers auf dem Fotoplakat, das die Kunstsammlung für den Eingangsbereich ausgewählt hat, schien da gut zu passen.

Entsprechende Verwunderung angesichts der beiden Stillleben am Anfang der Gemäldegalerie, die sich eigentlich ohne weiteres als moderne Interpretation ihres Genres lesen lassen. Es ist die erste Begegnung mit Originalwerken des Malers Chaïm Soutine (1893 – 1943) und statt des erwarteten Dramas entdeckt man grandiose Bilder, darunter viele eindrucksvolle Porträts.

Im Sonntagsanzug

Ein Bildnis zeigt einen Jungen im blauen Anzug mit weißem Kragen und Manschetten auf einem Stuhl vor rotem Hintergrund. Es ist in bewegtem Duktus angelegt und bei näherer Betrachtung finden sich in den kontrastierenden Farbfeldern viele weitere Farben, die als Akzent gesetzt oder im Malprozess verbunden sind. Der drastische Titel des Bildes ist “Dorftrottel” (1920) – wer dem Kind diesen Namen gegeben hat, ist unbekannt. Aber der Maler hat die Verunsicherung und das Unwohlsein des Kindes, das vermutlich nicht freiwillig in seinem Sonntagsanzug dasitzt, auf berührende Weise eingefangen.

Chaïm Soutine hat Stillleben, Porträts und Landschaften geschaffen und verwendete wohl weder Fotografien noch Skizzen für seine Gemälde, sondern malte im Atelier oder in der Natur direkt vor dem ausgewählten Bildgegenstand.

Neben seiner Handhabung der Farbe, die mitunter vor das Motiv zu treten scheint und bisweilen abstrakte Momente in der gegenständlichen Darstellung kreiert, fällt beim Rundgang auch die ungewöhnliche Bildarchitektur der Arbeiten auf. Beispielsweise wenn Soutine den Blick einlädt, einem Weg in die Diagonale zu folgen und sich ein Häuschen in gegenläufiger Ausrichtung entgegenstellt, das wiederum den Rest der kleinen Gebäudegruppe abzustützen scheint, wie in “Dorfplatz in Céret” (1920).

Die gut 60 Gemälde aus internationalen Sammlungen stellen ein Werk vor, das mit seiner Lebendigkeit und seinem künstlerischen Wagemut überrascht und fasziniert. Dass die letzte umfassende Präsentation von Soutine in Deutschland mehr als vierzig Jahre zurückliegt, mag erklären, warum dieser Künstler hierzulande so wenig bekannt ist. Dabei zählt er zu den Klassikern der Moderne und gilt, was für seine heutige Bedeutung vielleicht noch entscheidender ist, als ein wesentlicher Impulsgeber für die Malerei nach 1945 bis in die Gegenwart.

Mit großen Ambitionen

Seine erste künstlerische Ausbildung erhielt Chaïm Soutine in Minsk und Vilnius. Als er 1913 nach Paris kommt, sind dort zu diesem Zeitpunkt bereits die Fauves hervorgetreten, Ideen des Kubismus und Futurismus werden weiterentwickelt, Marcel Duchamp konstruiert sein erstes Readymade und wenig später wird Dada mit offenen Armen empfangen.

Der Zwanzigjährige entscheidet sich für eine akademische Lehre bei Fernand Cormon an der École des Beaux-Arts, bei dem vor der Jahrhundertwende schon Émile Bernard und Vincent van Gogh gelernt hatten. Parallel beginnt er sein Studium der alten Meister in den Sälen des Louvre, von denen ihm im Laufe der Jahre einige zur Inspirationsquelle werden. Doch er beobachtet auch das zeitgenössische Kunstgeschehen und überlegt beispielsweise, was der Kubismus seiner Entwicklung anzubieten haben könnte.

Wie viele Künstler und Literaten, die damals mehr oder weniger mittellos nach Paris kamen, findet Soutine seine erste Unterkunft im Künstlerhaus La Ruche, dessen über hundert Ateliers gerade zwei Studienfreunde aus Vilnius, aber auch Marc Chagall oder Fernand Léger beherbergen. Soutine wechselt bald in die Künstlersiedlung Cité Falguière, wo er sich mit dem Bildhauer Oscar Miestchaninoff ein Atelier teilen kann und Jacques Lipchitz und Amadeo Modigliani kennenlernt.

Modigliani wird zu einem engen Freund, der 1916 seinen Kunsthändler Léopold Zborowski überzeugt, sich auch für Soutine zu engagieren. Zwei Jahre später kann Soutine mit den beiden erstmals an die Côte d’Azur reisen und 1919 nimmt Zborowski ihn zu bescheidenen Konditionen unter Vertrag und ermöglicht ihm einen dreijährigen Aufenthalt in dem Pyrenäenstädtchen Céret. Obwohl Soutine das Ergebnis seiner Arbeit selbst in Frage stellt, machen die dort entstandenen Werke Furore.

Ein Konditor aus Céret

Im Winter 1922 ist der amerikanische Kunstsammler Albert C. Barnes auf Einkaufsreise in Paris. Er entdeckt Chaïm Soutines Porträt eines Konditors aus Céret und kauft daraufhin mehr als fünfzig seiner Bilder an. Wenngleich der Erfolg in finanzieller Hinsicht überschaubar bleibt – der Stückpreis lag um 20 Dollar und die Vermittler mussten auch noch mitverdienen – macht die sagenhafte Geschichte den Künstler in Paris umgehend bekannt. Das Interesse an seinem Werk wächst in Frankreich und den USA und bald auch in der Schweiz. Der seit Jahren gegen ihn polemisierende Pariser Kunstkritiker Adolphe Basler schreibt schließlich 1928 zynisch: “Wer hat nicht heute seinen kleinen Soutine?”

Chaïm Soutine fährt Anfang 1923 erst einmal zum Malen an die Côte d’Azur nach Cagnes-sur-Mer. Wenn man den kurvigen Rhythmus und die verdichtete Farbigkeit seiner “Landschaft in Cagnes” (1923) betrachtet, könnte man meinen, er habe sich nach dem Barnes-Erlebnis neuerfinden wollen.

Die Arbeit an einer bereits im Vorjahr begonnenen Bildserie, für die offenbar Jean Siméon Chardins “La raie” (1728) aus dem Louvre die Anregung gab, führt zu dem “Stillleben mit Rochen” (1923) in dem sich die Farbe erneut verselbständigen darf. In der Auseinandersetzung mit Rembrandt van Rijns “Le Boeuf écorché” (1655) entstehen 1925 großformatige Gemälde von Rinderhälften, die vor allem ein Rot-Blau-Kontrast und die Verankerung des Motivs in der Bildfläche charakterisiert. Eine weitere Werkreihe nimmt das Federvieh in den Fokus. Es ist wohl der spezifische Bildgegenstand, der den Maler bei “Hängendes Geflügel” (1925) anleitet, ihn auf eine Weise aus der Farbe zu entwickeln, die an Abstraktion grenzt.

Vorgänger und Anreger

Soutines Lebensbedingungen bleiben in den nächsten Jahren trotz der wachsenden Anerkennung und neuer Mäzene unsicher. Mitte der 1930er Jahre verstärken sich zudem gesundheitliche Probleme, und der Zweite Weltkrieg zeigt für den jüdischen Einwanderer bereits Folgen, noch bevor die deutsche Armee in Frankreich eintrifft. 1943 stirbt Chaïm Soutine in Paris an einem verschleppten Magengeschwür.

Die Wertschätzung seines Werks durch nachfolgende Künstlerinnen und Künstler beginnt bei Bernard Buffet, der die erste Retrospektive 1945 in Paris als “wahnsinnig interessant” erlebt. Auf der 1950 eröffneten New Yorker Ausstellung im MoMA erkennen die Abstrakten Expressionisten ihren Vorgänger, und Willem de Kooning sein Modell zur Verbindung von gestischer Malerei und monumentaler figurativer Form für die “Woman”-Bilder. Francis Bacon hat sich für einzelne Motive und die Farbintensität interessiert. Der Kunststudent Georg Baselitz findet in einem Stillleben mit Rind ein Sinnbild für die eigene Wahrnehmung der Welt. In dem die Ausstellung begleitenden Interviewfilm schwärmt Dana Schutz von malerischen Details, wie einer kleinen gelben Linie, die in der Bildmitte des Rochen-Gemäldes eine Art Eigenleben führt.

Chaïm Soutine hat tatsächlich eine Vielzahl von Malerinnen und Malern inspiriert. Die Düsseldorfer Ausstellung gibt nun dankenswerterweise auch dem Publikum der Kunstinteressierten die Gelegenheit, einen Künstler kennenzulernen, dessen facettenreiches Werk auch ohne psychologisierende Deutungen zu begeistern vermag.