Doamna Oliver în costum de călătorie, 1980–2012, Schwarz-Weiß-Fotografie, 38,9 x 39,5 cm, Courtesy The Estate of Geta Brătescu, Hauser & Wirth und Ivan Gallery Bucharest, © The Estate of Geta Brătescu, Foto: Mihai Brătescu

Im Atelier der unbegrenzten Möglichkeiten

Das Kunstmuseum Ravensburg zeigt die erste süddeutsche Einzelausstellung von Geta Brătescu.

“Bald nach der Revolution im Dezember 1989, waren in den Ausstellungen junger Leute in der Regel immer auch zwei oder drei reifere Künstler:innen anwesend. Eine war Geta. Die Leute nannten sie einfach so: Geta. Sie war eine von uns. Sie war eine von mir … Jetzt, nach so vielen Jahren, würde ich sie lieber Frau Brătescu nennen. Und nur damals Geta. Sie ist eine von uns geblieben, die aber irgendwie alle anderen überragt.”1

Das schrieb kein anderer als Dan Perjovschi, heute vielleicht der bekannteste rumänische Künstler, vor nicht langer Zeit in der Zeitschrift Secolul 21 (= 21. Jahrhundert), in der Geta (Abkürzung von Georgeta) Brătescu, als sie noch Secolul 20 hieß, als Designerin und künstlerische Leiterin eine tragende Rolle gespielt hat. Perjovschi und seine Frau Lia hatten Brătescus Atelier an der Kunsthochschule übernommen, als diese nach dem Tod ihrer Mutter in deren Haus umzog. Er hatte in der Wendezeit auf sich aufmerksam gemacht, als er alles in seiner Wohnung in Papier wickelte, ähnlich wie dies Brătescu in ihrer neunteiligen Fotoarbeit “In Richtung Weiß” bereits 1976 getan hatte. Lia begann zur selben Zeit ein Contemporary Art Archive aufzubauen. Zu einer Zeit, als zeitgenössische Kunst neben der offiziellen Staatskunst bislang nur ein Schattendasein geführt hatte.

Erste Einzelausstellung in Süddeutschland

Dies muss hervorgehoben werden, um erkennbar zu machen, dass Brătescu, die nun im Kunstmuseum Ravensburg mit der ersten Einzelausstellung im süddeutschen Raum geehrt wird, nicht nur eine lange Zeit vernachlässigte rumänische Avantgardekünstlerin war, sondern auf untergründige, vielleicht selbst vor Ort nicht immer wahrgenommene Weise, die Entwicklung in ihrem Land maßgeblich geprägt hat. Wie eine Sphinx scheint sie auf dem Titelmotiv der Ausstellung, der Fotoarbeit “Frau Oliver im Reisekostüm”, in eine unbekannte Zukunft zu schauen, die Schreibmaschine Marke Oliver wie ein kostbares Collier vor der Brust, die Reisetasche als Haube auf dem Kopf. 1980, zum Zeitpunkt der Aufnahme, war sie 54 Jahre alt. Für Secolul 20 arbeitete sie bereits, als Perjovschi noch ein kleines Kind war.

Die Ausstellung ist grob, wenn auch nicht strikt chronologisch aufgebaut. Die ersten Arbeiten stammen aus den 1960er-Jahren, als sie bereits um die 40 war. Aus der Familie eines Apothekers stammend, war sie zu Beginn der kommunistischen Herrschaft der Kunsthochschule verwiesen worden. Sie arbeitete als technische Zeichnerin und dann als Illustratorin. Die erste ausgestellte Arbeit von 1960 ist ein Stein: scheinbar eine Skulptur, in Wirklichkeit ein Objet trouvé: Aus einem Flusskiesel wird das Bild einer Schwangeren. Die Zensur auszutricksen: dafür stand für sie der antike Fabeldichter Äsop; und der Vogel für die Macht der Fantasie. Ihrer Fantasie ließ sie freien Lauf, indem sie die Hand mit dem Stift über, später mit der Schere durch das Papier bewegte.

Tanz der Linie

Die Zeichnung ist Linie, ist Bewegung, für Brătescu ein Tanz, der auch den staatlich auferlegten Einschränkungen elegant aus dem Weg geht. Dem steht in einer elementaren Verbindung das Auge gegenüber, der Blick, der im Gewirr, der Vielfalt der Formen Motive wahrnimmt. In ihren eigenen Worten: “Es ist die Realität, die die Abstraktion bestimmt. Ich sehe die Dinge in abstrakter Weise.” Dieses Hin und Her der Formfindung bestimmt ihre Arbeit – wie immer in der Kunst, könnte man sagen, aber bei ihr auf den elementaren Prozess reduziert und damit auch Thema, wenn sie etwa einen Film über ihre Hände dreht. Ein Prozess, den sie auch auf die Probe stellt, indem sie mit geschlossenen Augen zeichnet.

Ihre Materialien sind denkbar unscheinbar. Sie verarbeitet Mal-Lumpen, auf denen sie den Pinsel abgetupft hat, Fetzen von Verpackungspapier oder die papiernen Überreste von Zigaretten der Marke Carpati: eine Arte Povera, die durch Italienreisen bedingt sein könnte, vielleicht aber auch nur durch die sozialistische Mangelwirtschaft. In der Beschränkung liegt die Kraft: In Material und Format unscheinbar, hat sie außerhalb oder unterhalb des offiziellen Kunstbetriebs ihres Landes ein Leben lang unablässig produziert. Ihr Werk kann als Exempel dienen, wie Beweglichkeit und Fantasie letztlich alle Einschränkungen aushebeln. Die ihr eher ein Ansporn zur Kreativität sind: wie eine Aufforderung, sich darüber hinwegzusetzen; noch aus den einfachsten Materialien etwas zu machen; die eigenen vier Wände zu nutzen, immer aktiv zu bleiben – letztlich ist sie überhaupt nicht zu bremsen. Wie Bertolt Brecht ausgehend vom Tao te king sagt, “dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.”

Atelier als Produktionsstätte und Thema

Dabei gab es im kommunistischen Rumänien verschiedene Phasen: 1968 kritisierte Nicolae Ceauşescu den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag. Es war für Rumänien eine Art Tauwetter-Periode, in der Brătescu im Alter von vierzig Jahren ihr Kunststudium wieder aufnahm und so auch zu ihrem Atelier an der Kunstakademie kam. 1974 ging sie so weit, vorzuschlagen, den öffentlichen Raum anders zu bevölkern als mit staatstragenden Denkmälern: In ihrer Arbeit “Magnete in der Stadt” imaginiert sie einen starken Magneten am Stadtrand, der, ohne den Verkehr durcheinander zu bringen, den Menschen metallene Objekte aus den Taschen zieht, während weniger potente Magneten im Stadtzentrum Uhren verstellen und noch kleinere Kindern Freude bereiten, indem sie unvorhergesehene Bewegungen hervorrufen. Dieser imaginäre Ausflug in den öffentlichen Raum blieb freilich die Ausnahme. Der Mittelpunkt ihrer Arbeit war nun, wie bei allen Künstlern, aber bei ihr in potenzierter Weise, ihr Atelier, das sie wiederholt thematisiert: In der Ausstellung zu sehen ist ein aus sechs Lithografien zusammengesetzten Bild und – besonders schön – ein 17-minütiger Schwarzweißfilm, den sie mit Ion Grigorescu gedreht hat.

In Nahaufnahme ist ihr Kopf zu sehen, wie sie sich die Haare rauft. Die Kamera fährt zurück, sie markiert wie bei einem Kind, das wieder ein Stück gewachsen ist, auf einem großen Bogen Papier ihre Körpergröße. Von da aus zieht sie eine senkrechte Linie, die sich am Boden horizontal fortsetzt. Sie legt sich quer dazu hin und macht daraus ein Quadrat. Holzplättchen, auf einen Faden gezogen, löst sie, lässt sie zu Boden fallen und spaziert darauf herum wie auf Steinen in einem Teich. Sie lässt eine Papierschlange fallen, zieht sie waagrecht auseinander, sie rollt nach vorn. Sie klatscht in die Hände und auf die Schenkel. Einen einfachen Klapphocker macht sie zu einer Figur, indem sie ihm ein Kopftuch aufsetzt und einen Rock umbindet. Sie zieht ihren schwarzen Kittel hoch und tastet dann kopflos durch das Atelier. Buchstäblich alles, was sie in ihrem täglichen Arbeitsraum vor Augen hat, kann zu einem Bild, einem Objekt, Ausgangspunkt einer Handlung werden.

In Bukarest war Brătescu seit den 1960er-Jahren eigentlich immer präsent. Doch in ihrer Bedeutung richtig erkannt wurde sie erst seit einer Einzelausstellung 1999 im Nationalmuseum. International fand die bisher wichtigste Ausstellung 2016 in der Hamburger Kunsthalle statt, als Teil einer Serie über bedeutende Künstlerinnen der Avantgarde. Seitdem hat sie den rumänischen Pavillon der Biennale von Venedig 2017 gestaltet und war im selben Jahr auch auf der Documenta vertreten. Bei näherer Betrachtung hat sie allerdings bereits 1960 an der Biennale von Venedig teilgenommen und seit den 1980er-Jahren vielfach auch international ausgestellt, unter anderem zweimal auf der Biennale von Săo Paulo. Dass sie erst spät die verdiente Beachtung fand, lag zum einen an den widrigen Bedingungen im kommunistischen Rumänien, noch dazu als Frau: Künstlerinnen sind auch im Westen erst nach der Jahrtausendwende vermehrt in den Fokus gerückt. Zugleich haben wohl auch genau die Strategien, die ihr halfen, die Zensur auszutricksen – kleine, schlichte Arbeiten aus einfachen Materialien – dazu beigetragen, dass sie übersehen wurde.

Dies ist nun auch in Süddeutschland nicht länger der Fall. Das Kunstmuseum Ravensburg zeigt einige weitere schöne Arbeiten: ein paar späte Selbstporträts etwa, eine Serie von Fotos ihrer Füße oder eine Reihe ihrer späteren Serien von bunten, geometrischen Collagen. In einem Film sitzt sie am Schreibtisch, zerschneidet den Karton, zeichnet mit dem Filzstift Linien auf das Papier und gibt, häufig achselzuckend, Auskunft, als wundere sie sich über die Aufmerksamkeit, die ihr auf einmal in hohem Alter noch zuteil wird. Doch man täusche sich nicht: Das ist nicht nur eine alte Dame, die Papierbogen zerschneidet. Darin steckt viel Lebensweisheit, wie man unter widrigen Bedingungen ein erfülltes Dasein fristet; und eine umfassende Kenntnis der Kunstgeschichte und neueren Kunsttheorie. Zu der sie auch selbst beigetragen hat: Eine Auswahl ihrer Schriften befindet sich noch in der Übersetzung und soll anlässlich der Ausstellung voraussichtlich Ende Mai/Anfang Juni erscheinen.

Die Ausstellung läuft bis 25. Juni. https://www.kunstmuseum-ravensburg.de/


1 https://secolul21.ro/arhive/1909 (eigene Übersetzung)