Christiane Löhr, Ohne Titel, 2018. Ölstift auf Papier, 32,5 x 28 cm. Foto: David Ertl.

Weichheit, die an Stärke grenzt

Christiane Löhr, Symmetrien des Sachten, arp museum Bahnhof Rolandseck, 8.10.2023–21.1.2024

Bei dem Versuch, die Kunst von Christiane Löhr auf den Begriff zu bringen, fand Jannis Kounellis schon 1997 einen anspruchsvollen, bis heute gültigen Vergleich: “Von einem Ausschnitt seiner Gemälde sprechend, definiert Arshile Gorky ihn mit Süße, aber einer so süßen, dass sie in der Nähe des Todes war. Was sich in der Arbeit von Christiane Löhr abhebt, ist eine Weichheit, aber eine so weiche, dass sie in der Nähe der Kraft ist und so kräftig, dass sie einem schwarzen Quadrat gleicht.” Christiane Löhr hatte 1994 begonnen, bei dem bedeutenden Vertreter der Arte Povera an der Düsseldorfer Kunstakademie zu studieren, und wurde 1996 dessen Meisterschülerin – daher sein privilegierter Einblick in die frühen Werkprozesse der Künstlerin.

Christiane Löhr, Kleine Dreierkuppel, 2018
Grasstängel, 14 x 13 x 13 cm
Foto und Courtesy: Archivio fotografico Tucci Russo Studio per l’Arte Contemporanea

Christiane Löhr, Kleine Dreierkuppel, 2018. Grasstängel, 14 x 13 x 13 cm. Foto und Courtesy: Archivio fotografico Tucci Russo Studio per l’Arte Contemporanea.

Beim Besuch ihrer mit mehr als achtzig Werken aus vier Dekaden groß angelegten Überblicksausstellung im arp museum wird das Publikum zuallererst mit dieser Weichheit konfrontiert. Der Weg in den lichtdurchfluteten Richard-Meier-Bau führt durch einen Tunnel, an dessen Ende eine golden leuchtende Arbeit aus unzähligen Distelsamen wartet, die, fast unsichtbar zusammengehalten von einem Haarnetz, eine Tropfenform bilden. Angestrahlt von einem Spot und umgeben von einem Plexiglaskasten, appelliert das ebenso raumgreifende wie raumhaltige Gebilde in seiner atemberaubenden Flauschigkeit mindestens so sehr an den Tastsinn wie an das Auge. Die Plexiglashülle schützt es nicht nur vor Berührungen und Zugluft, sondern auch vor Ablagerungen. Wie sollte man Staub von Staubgefäßen entfernen?

Es ist allerdings ein großer Vorzug, dass Löhr ihre plastischen Arbeiten überwiegend ungeschützt präsentiert und ihrer Umgebung unmittelbar aussetzt – die beste Voraussetzung dafür, dass sich auch das Publikum ungeschützt den Werken aussetzt. Diese Unmittelbarkeit der Erfahrung beginnt bereits mit dem Betreten des großen Ausstellungsraums. Etwas liegt in der Luft – ein angenehmer, fast süßer Geruch, der an getrocknete Gräser und Blüten erinnert und so diskret ist, dass er schon nach kurzer Zeit wieder unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt.

Die Schau ist weniger nach chronologischen, sondern eher nach ästhetischen und raumbezogenen Kriterien organisiert. So wird das Motiv der “Weichheit” durch ein großes, auf dem Boden ruhendes Oval aus Löwenzahnsamen wirkungsvoll wieder aufgegriffen. In seiner Nachbarschaft, etwas am Rand der Ausstellungsfläche platziert, findet sich dann ein überraschender, aufschlussreicher Nukleus früher Arbeiten, die zum Teil noch vor Löhrs Düsseldorfer Akademiezeit entstanden sind. Sie zeigen, dass sich die Künstlerin dort nicht neu erfinden musste, sondern aus ihren vorhandenen Interessen neue, radikale Konsequenzen zog. Ihre im Alltag und oft in Bodennähe vorgefundenen, organischen Materialien – wie Algen, Muschelschalen oder Pflaumenkerne – werden anfangs noch mit anderen Materialien verbunden. So ist ihr geschwungenes Horn (1993) aus Stroh und Wachs geformt und ahmt ein reales Horn nach; die Fünf Scheiben (1995) sind eine Anordnung von fünf Objekten aus Glas, Silikon, Pflaumenkernen und Acrylglas, die entfernt an Petrischalen erinnern und Vorstellungen von Zellteilungen wecken. An anderer Stelle ist eine Arbeit aus demselben Jahr zu sehen, die solche mimetischen Ansätze bereits hinter sich und das Material ganz zu sich selbst kommen lässt: die Essig-Öl-Körper (1995), zwei unterschiedlich große, jeweils mit Pflanzenöl und Essig gefüllte Glaskuben. Hier sind die beiden Flüssigkeiten allein den Gesetzen der Chemie unterworfen und bilden selbstständig zwei getrennte Schichten aus.

Ausstellungsansicht. Christiane Löhr, Symmetrien des Sachten, arp museum Bahnhof Rolandseck, 8.10.2023-21.01.2023. Foto Christaine Löhr.
Ausstellungsansicht. Foto: Christiane Löhr.

Die seitdem entstehenden Arbeiten sind zunehmend von etwas bestimmt, das in den Debatten über die Skulptur der Moderne “truth to materials” oder “Materialgerechtigkeit” hieß; Materialeigenschaften sollten nicht verfälscht, Steine nicht dazu verwendet werden, wie weiches Fleisch auszusehen, forderte etwa Henry Moore. In diesem Sinne untersuchen Christiane Löhrs an der Wand installierte Arbeiten wie filigrane Kleine Haarkörper (1995) aus dunklem Pferdehaar oder das Gehänge (1996) aus bräunlichen Kletten, Hundehaar und Schnur das verwendete Material auf seine Eigenschaften und bringen sie zur Geltung. So dienen Efeusamen, Kletten und Gräser dem Aufbau von quasi architektonischen Gebilden; dies unterstreichen auch Titel wie Tempel (2018), ein flaches, kreisrundes Konglomerat aus Efeusamen mit einigen leichten Erhebungen, oder Kleine Säulen (2009), nur wenige Zentimeter hohe Konstrukte aus Distelsamen und Nadeln, entfernte Verwandte von Brancusis Unendlicher Säule. Mit einfachen, additiven Verfahren – auch ein Erbe der Minimal Art – wie dem Verhaken von Kletten, dem Versammeln von Samen in Haarnetzen oder dem Verknoten von Pferdehaaren gelingen jedoch auch große, in der neun Meter langen Haarreuse (2023) sogar den gesamten Raum überspannende Formate. “Die Natur”, bemerkte Christiane Löhr 2021 in einem Interview, “findet immer die Lösung, mit den Dingen umzugehen”.

Was jedoch nicht heißt, dass nicht auch die Künstlerin Lösungen findet, “mit den Dingen umzugehen” – etwa durch zwei niedrige, großflächige weiße Podeste, die sie als “Zweitboden“ bezeichnet. Sie würdigen den Boden, der in nichtwestlichen Kulturen eine bedeutendere Rolle spielt, und sie schaffen visuell beruhigte Areale für die Installation besonders kleiner Formate, etwa aus Gras- und Pflanzenstängeln – Ausstellungen innerhalb der Ausstellung.

Integraler Bestandteil der Präsentation sind Löhrs zum Teil großformatige Papierarbeiten, die entweder in Tusche oder in dunklem Ölstift ausgeführt werden. In ihrer Monochromie und ihrer organischen Formensprache erinnern sie, aus der Distanz betrachtet, an frühe fotografische Experimente mit Pflanzen. Man denkt an Konstellationen von Zweigen oder an unscharfe Vergrößerungen von Laubwerk. Diese Blätter entstehen jedoch intuitiv und nicht nach, sondern gewissermaßen parallel zur Natur. Das mit den Fingern nachträglich eingeriebene Material des Ölstifts erzeugt dabei eine Dichte, die eine haptische Qualität annimmt, während die Transparenz des Tuscheauftrags mit der räumlichen Durchlässigkeit vieler plastischer Objekte korrespondiert.

Die Anziehungskraft, die Löhrs Werke ausüben, beruht vielleicht nicht nur auf ihrem unübersehbaren ästhetischen Reiz, sondern auch auf den Verwandtschaften und Gemeinsamkeiten zwischen Lebewesen – Menschen, Tieren und Pflanzen –, auf der Tatsache, dass diese ähnlichen Abläufen von Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Und sie eröffnen neue Blicke auf die latenten Möglichkeiten von organischer Materie. In “Neues von Blumen”, seiner berühmten Rezension von Karl Blossfeldts Bildband Urformen der Kunst (1928), sprach Walter Benjamin von einer “Überprüfung des Wahrnehmungsinventars”, die dank der fotografischen Vergrößerung von Pflanzendetails möglich wurde. Das Faszinierende an Christiane Löhrs plastischen und zeichnerischen Werken ist nicht zuletzt, dass sie diese “Überprüfung des Wahrnehmungsinventars” ohne technische Hilfsmittel ermöglichen. Aufmerksamkeit und Konzentration sind die wesentlichen, wertvollen Ressourcen, die für ihre Herstellung ebenso wie für ihre Betrachtung unerlässlich sind.


Buchempfehlung

Christiane Löhr, Symmetrien des Sachten

Herausgegeben von Julia Wallner und Jutta Mattern

Mit Texten von: Astrid von Asten, Stephanie Buhmann, Bruno Corà, Reinhard Ermen, Nicole Fritz, Ines Goldbach, Amine Haase, Janis Kounellis, Jutta Mattern, Giuseppe Panza, Marion Poschmann, Ingrid Pfeiffer, Tiziano Scarpa

Erscheint im Dezember 2023, 288 Seiten, 140 Abb., ISBN 978-3-7757-5669-3