Die Kunsthalle Mannheim thematisiert den Klimawandel – oder doch eher das Verhältnis von Mensch, Natur und Technik.
“140 Streifen”, sagt ein Transparent am Mannheimer Bahnhof. “Ein klarer Trend: Es wird wärmer.” Die 140 senkrechten Balken, links vorwiegend blau, rechts zum Teil dunkelrot, beziehen sich auf die Jahre 1881 bis 2021. Klimawandel hat viel mit Daten, Statistik, Berechnungen zu tun. Für die Kunst ein sperriges Thema, das gleichwohl auch viele Künstler:innen beschäftigt. “1,5 Grad”, der Titel der Ausstellung der Mannheimer Kunsthalle, bezieht sich auf das Ziel der Pariser Klimakonferenz 2015, die Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit auf 1,5 Grad zu begrenzen. 197 Staaten haben das Dokument unterzeichnet, und die meisten haben die Latte bereits gerissen, was Fabian Knecht mit einer Reihe von 197 handgefertigten Thermometern visualisieren will. Daniel Canogar wiederum empfängt die Besucher mit zwei technisch aufwendigen Installationen, die Energieproduktion und -verbrauch in Europa gegenüberstellen.


Visualisierung von Daten: Ist das also die Aufgabe der Kunst? Eher geht es um eine bestimmte Ästhetik, die die Betrachter anzieht, neugierig macht und damit mehr leistet als das bloße Ins-Bild-Setzen, vielmehr einen Anstoß gibt, sich eigene Gedanken zu machen. 1,5 Grad: Das ist auch zum Slogan der Klimaschutzbewegung geworden, von der Extinction Rebellion bis zu den Protesten von Lützerath. Eine Aufforderung, die Klimaziele ernst zu nehmen. “Aktivismus” ist denn auch das erste Kapitel der Ausstellung überschrieben. Doch den Auftakt macht ein Raum von Ernesto Neto, den man ohne Schuhe betreten soll, um Einkehr zu halten, zu riechen, zu hören, zu fühlen. Aktivismus kann nicht im Museum stattfinden. Es sind Fotos, Filme und Arbeitsergebnisse von Aktivitäten anderswo, die im Ausstellungsraum zu sehen sind. Wie etwa die farbenfrohen Korallen, die ganz viele Beteiligte mit Margaret und Christine Wertheim gehäkelt haben, sodass die Angaben zu den Künstler:innen nun die ganze Wand hinter der Installation füllen.
In einem Video zeigt Tita Salina das Leben der Fischer von Djakarta. Sie fischen Plastikmüll aus dem Meer und packen ihn in ein Netz, auf ein Bambusfloß. Am Ende steht auf dieser “nachhaltigsten Insel des Archipels” die Künstlerin. Die Niederländerin Melanie Bonajo porträtiert in einem Film vier Frauen, die aus unterschiedlichen Motiven auf und mit dem Land arbeiten. Eine von ihnen betreibt im Staat New York eine Farm mit vorwiegend schwarzen Menschen. Sie erzählt, wie ein Junge nur zögernd seine Schuhe ausziehen und barfuß laufen wollte, dann aber durch die Fußsohlen die Erinnerung an seine Großmutter in ihm aufstieg. Verbundenheit mit der Erde, Geschichte, Trauma und Heilung stehen hier in einer komplexen Verbindung, die weit über den konkreten Fall hinausweist. Mit den UN-Klimazielen hat dies, wie ein Großteil der Arbeiten, nur weitläufig zu tun. Der Titel “1,5 Grad” ist eher pars pro toto für Umweltthemen im Allgemeinen zu verstehen, die einzelne Arbeiten punktuell auf höchst unterschiedliche Weise beleuchten.


Fragmente nennt Johan Holten, der Direktor der Kunsthalle, die je nach Zählweise fünf oder sieben Abteilungen. Was sie verbindet, bleibt offen. Auch, weil die Thematik sich nicht auf einen Sonderausstellungsbereich beschränkt, sondern das gesamte Museum durchdringen soll. Neben fünf eigene Räume zu verschiedenen Thematiken treten zwei Arbeiten in der Bundesgartenschau, die eine Woche später anfängt, eine Grafikausstellung, die erst im Mai eröffnet, sowie einzelne Werke im Altbau der Kunsthalle. Sie sind als dazu gehörig gekennzeichnet, weil sie das Thema auf andere Weise ansprechen, besser gesagt den Wandel des Naturverständnisses von Caspar David Friedrich bis Richard Long. Camille Pissaro etwa zeigt im Zentrum seines Gemäldes “Quai de Ponthuis, Pontoise” einen rauchenden Schornstein, der nun im aktuellen Zusammenhang auf den Beginn des menschengemachten Klimawandels hinweist.
In den Themenräumen, unter den Stichworten “Ressourcen”, “Labor”, “Lebewesen” und “Kosmos”, treten umgekehrt Werke aus der Sammlung der Kunsthalle in einen Dialog mit Leihgaben und neu angefertigten Arbeiten. So stehen sich im Fragment “Ressourcen” zwei Arbeiten von Lee Bae und Iannis Kounellis gegenüber. Der koreanische Künstler verarbeitet Holzhohle zu flächigen Kompositionen, die geschliffen, poliert einen silbrigen Glanz erhält. Weit mehr als diese ästhetische Aufbereitung scheint paradoxerweise die Arbeit von Kounellis, entstanden 1985 im ganz anderen Kontext der Arte Povera, an den Klimawandel zu gemahnen: Sechs Kohlesäcke, eingespannt zwischen Stahlträger, wirken wie der Inbegriff der Industrialisierung oder auch der fossilen Energie, die einmal in jeder Wohnung die Öfen befeuert hat und heute ein Auslaufmodell darstellt.
Im Fragment “Lebewesen” geht es um das Verhältnis des Menschen zu Tieren. Donna Haraway könnte Pate gestanden haben, auch wenn Irina Danieli sie im einleitenden Katalogtext nur beiläufig erwähnt. Joseph Beuys mit seinem Koyoten kommt ebenso vor wie Marino Marini. Anne Duk Hee Jordan hat einen Raum über Insekten gestaltet: In einem Video an der Längswand sind Raupen und Fliegen in Nahaufnahme zu sehen, während sie in die Schichtholplatten des Bodens das Muster der Gänge des Borkenkäfers eingegraben hat. Passend dazu zeigt die Ausstellung der Graphischen Sammlung ab 12. Mai alte und neue Insektendarstellungen in verschiedenen Medien, vom Kupferstich bis zur Tätowierung.
Spannend, wenn auch etwas heterogen, ist das Fragment “Labor”. Die dänische Gruppe Superflex hat mit einem Ingenieur eine transportable Biogasanlage für eine afrikanische Familie entwickelt. Ein großer, orangefarbener Ballon liegt im Ausstellungsraum, ein Video zeigt die Funktionsweise. Susanne M. Winterling beschäftigt sich in einer raumfüllenden Installation, dem Katalogtext zufolge, von der Salzwüste Kachchh im indisch-pakistanischen Grenzgebiet ausgehend, “mit der Frage, wie das Überleben in klimatischen Extremsituationen gesichert werden kann”. Leider erschließt sich das aus den Exponaten nicht, und auch aus dem Katalog nicht wirklich. Ein interessantes Modell, wenn auch nicht universell anwendbar, stellt insofern die persönliche Anwesenheit Thomas Kleiners im Ausstellungsraum dar. Der Künstler experimentiert mit Ballons und Fallschirmen, selbst genäht aus einem grünlichen, aus Reismehl hergestellten Kunststoff. An die mit einer Helium-Luft-Mischung gefüllten, frei im Raum schwebenden Ballone hängt er feuchte Schwämme, sodass sie beim Trocknen langsam aufsteigen.
Der Aufstieg ins zweite Obergeschoss führt ins Fragment “Kosmos”. Großformatige Bilder von Anselm Kiefer wechseln sich ab mit Zeichnungen der Mannheimerin Eva Gentner. Beide thematisieren Sternbilder, die in Kiefers Serie “The Secret Life of Plants for Robert Fludd” durch trockene Zweige repräsentiert werden. Fludd, ein Mediziner des 17. Jahrhunderts, wollte, dem damaligen Analogiedenken entsprechend, jeder Pflanze einen Stern zuordnen. Die einzelnen Sterne sind dagegen mit Zahlenkolonnen nach einer Nomenklatur der NASA bezeichnet, ebenso in Kiefers Werk “Jaipur”. Der Titel bezieht sich in diesem Fall auf eine Sternwarte des 18. Jahrhunderts in der gleichnamigen indischen Stadt. Eine Leiter, die zum Himmel hinaufführt, rekurriert andererseits auf die biblische Ikonografie der Jakobsleiter. Das Firmament bleibt unerreichbar, aller Raumfahrt und Forschung zum Trotz. Gentner konfrontiert auf ganz ähnliche Weise aktuelle Technologien mit der Ästhetik alter Sternbild-Darstellungen, wenn sie ihre Sternbilder “Crispr/Cas 9”, “Lithium” oder “AI” nennt. Die Künstlerin will damit auf das Überhandnehmen von Satelliten im All anspielen: Am Himmel überwiegen bald die künstlichen Lichter.
Wer nach künstlerischen Antworten auf das Problem des Klimawandels sucht, wird in dieser Ausstellung nur begrenzt fündig. Eher ist sie als Angebot an das Mannheimer Publikum zu verstehen, das seine Kunsthalle kennt, sich aber gern von neuen Arbeiten und Arrangements überraschen lässt. Statt nach einem Gesamtkonzept zu suchen, was über das allgemeine Thema Mensch und Umwelt kaum hinausführt, bietet sich daher an, einfach durch die Räume zu flanieren und sich ohne bestimmte Absicht auf einzelne Arbeiten einzulassen. Ausgangspunkt war wohl der Wunsch, an die Themen der Gartenschau – Klima, Umwelt, Energie und Nahrungssicherung – anzuknüpfen. Im Spinelli-Park, dem Haupt-Austragungsort der BuGa, verweisen nun zwei Arbeiten auf die Kunsthalle zurück: Olaf Holzapfel hat aus Weidenruten und Stroh eine begehbare Installation konstruiert. Fabian Knecht wiederum hat einen Teil des Geländes mitsamt Baumstamm und Wiese in einen White Cube gepackt. Die Vegetation wird zum Ausstellungsobjekt. Im Anthropozän, der menschengemachten Umgebung, ist die Natur das Besondere, das der Hervorhebung bedarf.
Kunsthalle Mannheim, 7.4.-8.10. https://www.kuma.art/de/1komma5grad