Wolfgnag Laib, Reisfeld (Detail), Installationsansicht aus der Ausstellung “The Beginning of Something Else”, Kunstmuseum Stutgart, 2023. Foto: Joachim E. Röttgers.

Das innere Leuchten

Wolfgang Laib im Kunstmuseum Stuttgart, 17. Juni bis 5. November 2023.

Ein sanfter Duft erfüllt den Raum, der bei den sommerlichen Temperaturen noch zunehmen wird. Das gehört zur sinnlichen Seite der Arbeiten von Wolfgang Laib. Zu sagen, er verwende natürliche Materialien, trifft es nicht genau, denn es handelt sich nicht einfach um Werkstoffe, die er nach seinen Vorstellungen verarbeitet. Laibs Materialien – Milch, Blütenstaub, Reis, Bienenwachs – sind mit dem Leben verbunden. Milch ist die erste Nahrung aller Säugetiere, die der Mensch auch im Erwachsenenalter zu sich nimmt und zu verschiedenen Produkten verarbeitet. Ohne Blütenstaub könnten sich Pflanzen nicht vermehren; alles Leben würde enden. Reis ist für den größeren Teil der Menschheit die wichtigste Nahrungsquelle, jedes Korn zugleich der Anfang einer neuen Pflanze. Bienenwachs erzeugen Bienen, um ihre Waben zu bauen, Honigspeicher und Brutstätten.

Milch, Blütenstaub, Reis, Bienenwachs sind für Laib nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern Gegenstand, Thema seiner Arbeit. Daraus ergeben sich die Formen: Milch, in die nur millimetertiefe Wanne der Milchsteine aus weißem Marmor gegossen, lässt sich farblich von diesem zunächst gar nicht unterscheiden, steht jedoch aufgrund der Oberflächenspannung minimal über die Ränder empor. Optisch fast eins, besteht zwischen Stein und Flüssigkeit doch ein Gegensatz, eine Spannung. Blütenstaub erfordert eine lange, geduldige Sammeltätigkeit. Laib siebt den Pollen auf den Boden, flach, manchmal kegelförmig. Reishäufchen zu Tausenden füllen die oberste, dritte Etage des Stuttgarter Kunstmuseums fast vollständig aus, vielleicht an die sprichwörtliche Handvoll Reis erinnernd, die in ärmeren Ländern den Menschen ernährt. Reisfeld nennt Laib die Installation ein wenig doppelsinnig. Darin stehen weiter hinten das rote, beidseits getreppte Dreieck einer Zikkurat und senkrecht dazu zwei schwarze, nur einseitig ansteigende Treppen: Holzskulpturen, behandelt mit burmanischen Lack.

Laib gibt mit seiner Frau Carolyn eine halbstündige Privatführung durch die fast fertig aufgebaute Ausstellung. Er lächelt, freundlich, ein wenig ironisch. Wie oft hat er zu seinen Arbeiten schon Rede und Antwort stehen müssen, wo sie doch eigentlich für sich selbst sprechen sollten. Das sagt er zwar nicht. Doch so erklärt sich seine Zurückhaltung. “Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht”, heißt es im Tao te king (Dào dé jing), einem Buch, das ihm der oberschwäbische Landschaftsmaler Jakob Bräckle bereits in jungen Jahren nahe gebracht hat, der einzige Freund der Familie in Biberach. Dort hatte sein Vater, Gustav Laib, 1958 eine Arztpraxis eröffnet. Später holte er die Familie nach.

Wolfgang Laib war achtzehn Jahre alt, als George Harrison 1968 nach dem Besuch der Beatles bei Maharishi Mahesh Yogi The Inner Light schrieb, mit Sitar- und Tabla-Begleitung, angelehnt an einen Text aus dem Tao te king: “Ohne aus seiner Tür zu treten, kann man wissen, was auf der Welt geschieht.” Laib war allerdings nicht auf die Popkultur angewiesen, um Indien zu entdecken. Sein Vater interessierte sich für moderne Kunst. “In Metzingen!”, bekräftigt er: dem Ort seiner Kindheit, wo es moderne Kunst damals, in den 1950er-Jahren, nicht gab. Gustav Laib interessierte sich aber nicht nur für Kunst. Ebenso ungewöhnlich für einen Arzt in der oberschwäbischen Provinz: Er reiste mit der Familie nach Konya, dem Ort, wo der Sufi-Poet Dschalāl ad-Din Rūmi im 13. Jahrhundert den Mevlevi-Orden gegründet hatte, den Orden der tanzenden Derwische. Und dann immer weiter in andere orientalische Länder, bis er schließlich in Südindien an einem Hilfsprojekt der Gandhigram-Stiftung, einer Initiative von Schülern Mahatma Gandhis mitwirkte. Gefragt, wie sein Vater dazu kam, antwortet Laib nur: “Wegen der Kunst.”

Gustav Laib hatte irgendwann eine Ausstellung mit tantrischer Kunst gesehen. Die zum Teil abstrakten Formen erinnerten ihn an die Malerei der Moderne. Diese In-eins-Setzung indischer Weltmodelle mit moderner, abstrakter Kunst steht am Ausgangspunkt von Wolfgang Laibs Werk. 1972 verbrachte die Familie erstmals ein halbes Jahr in Gandhigram. Wolfgang Laib studierte damals Medizin in Tübingen und bereitete sich auf seine Abschlussarbeit zur Wasserhygiene im ländlichen Südindien vor. Nach seiner Rückkehr fertigte er aus einem schwarzen Findling sein erstes Kunstwerk: ein Brahmanda, ein Weltenei. Statt Arzt, wie sein Vater, wurde er Künstler. Er wollte unbedingt in der Kunstwelt ankommen, sagt Laib: in den Museen und wichtigen Galerien der Welt. Das ist ihm gelungen. Seine erste Ausstellung mit sechs Milchsteinen hatte er 1976 in der Stuttgarter Galerie Müller-Roth. Drei Jahre später stellte er zum ersten Mal in New York aus. Carolyn Reep, seine Frau, lernte er dort kennen.” Es gab damals in New York fast keine Ausstellungen aktueller europäischer Kunst”, erzählt sie. Sie ist Restauratorin asiatischer Kunstgegenstände. Laibs Arbeiten sprachen sie an, sie kam jeden Tag in die Ausstellung. 1982 hatte Laib den Durchbruch geschafft. Seine Arbeiten waren sowohl auf der Biennale von Venedig als auch auf der Documenta ausgestellt.

Ein gelbes Leuchten geht von dem Kiefernpollen-Quadrat in der Herzkammer des Kubus des Kunstmuseums aus. Pollen sind nicht einfach ein Pigment: “Sonst wäre meine Kunst sinnlos”, betont Laib. Eigentlich sei er immer Mediziner geblieben. Er sei dankbar für die Errungenschaften der modernen Medizin: “Aber da geht es nur um den Körper.” Ihm geht es ums Ganze. Seine Arbeiten erinnern an Opfergaben. Huldigungen an die Natur. Die annähernd quadratische Form der Blütenstaub-Arbeit erinnert an die Quadrate von Josef Albers, dessen Arbeiten der Vater gesammelt hat. Von Gustav Laibs Beziehungen zur Ulmer Hochschule für Gestaltung zeugt auch das Haus, in dem der Sohn heute noch lebt. Von Fred Hochstrasser, einem jungen Schweizer Architekten, ließ er sich bei Biberach ein modernes, flach gedecktes Glashaus bauen. Zu Hochstrasser schreibt der Designer Hans Gugelot im Nachruf: “Er hat als Student dafür gesorgt, dass Max Bills Pläne für die Gebäude der Hochschule für Gestaltung Ulm tatsächlich in gebaute Architektur übersetzt werden konnten.” Laibs Haus muss um 1960 in der ländlichen Umgebung bei Biberach gewirkt haben wie von einem anderen Stern: Das flache, rundum verglaste Rechteck war schon fertiggestellt, als Ludwig Mies van der Rohe in Berlin mit dem Bau der Neuen Nationalgalerie begann.

Die Zeit wirkt wie angehalten in der Ausstellung, die doch Arbeiten aus verschiedenen Schaffensperioden enthält. Der Milchstein, der auf die Anfänge von Laibs künstlerischer Arbeit verweist, wird sechsmal im Laufe der Ausstellung für jeweils einen Tag mit Milch gefüllt. Zum  ersten Mal ausgestellt ist eine Stadt des Schweigens: Bienenwachsskulpturen, die bereits existierende Türme des Schweigens um weitere Häuser des Schweigens ergänzen. “Wissen Sie, was Türme des Schweigens sind?” fragt Laib. Die Parsen, Anhänger des Zarathustra-Kults, ursprünglich aus dem Iran, heute vor allem in Bombay lebend, legten ihre Verstorbenen auf hohe Plattformen, außer Sichtweite, den Geiern zum Fraß. Wachsschiffe ruhen auf einem hohen Holzgestell. You will go somewhere else, hat Laib diese Arbeit genannt, die erstmals 1995 in der Sperone Westwater Gallery in New York ausgestellt war. Dieses “somewhere else” ist durchaus vieldeutig wie auch der Ausstellungstitel The Beginning of Something Else – “in our life, but also far beyond our time, our body, our place”, wie der Künstler handschriftlich in der Begleitpublikation schreibt. Das Schiff, Sinnbild des Reisens, aber auch der “letzten Reise”, die der Mensch eines Tages antreten muss: ein gängiges Symbol in vielen Kulturen.

Kann man bei Laib von religiöser Kunst sprechen? Die Publikation enthält Texte aus allen Zeiten, vom Gilgamesch-Epos bis zur Gegenwart, aus Europa und Asien, aus verschiedenen Religionen und Weisheitslehren. Das Problem ist: Religiöse Texte können nur in Bildern und Gleichnissen sprechen. Sobald man versucht, das Absolute zu reflektieren, entflieht es einem, stellte Friedrich Wilhelm Schelling in einem Text fest, der in Laibs Publikation enthalten ist. Man kann es auch mit dem Tao te king sagen: “Das Tao, über das ausgesagt werden kann, ist nicht das absolute Tao.” Für Laib sind alle diese Lehren gleichwertig. Er versucht mit seiner Kunst das, was Schelling das Absolute nennt, direkt anzusprechen, ohne Umweg über Worte. Das Sendungsbewusstsein, das ihn zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit erfüllte, hängt damit zusammen.

In einem Punkt wäre Laib mit George Harrison sicher nicht einverstanden. “The farther one travels, the less one knows”, heißt es in The Inner Light. Für ihn ist es so: Reisen – auch dafür können die Wachsschiffe stehen – erweitern jedes Mal seinen Horizont. “Wer schon weiß, was er erleben wird, wenn er wegfährt, der braucht überhaupt nicht zu fahren”, meint er. Immer wenn er, in der Regel ein bis zweimal sechs Wochen im Jahr, nach Südindien fährt, lerne er etwas dazu. Arbeiten wie die länglichen Reishäuser wirken hermetisch. Einige bestehen aus massivem Marmor, umgeben von kleinen Reishäufchen. Bei anderen, aus Holz, mit rotem Schellack lackiert, befindet sich der Reis unsichtbar und unzugänglich im Inneren. In einem Raum mit Zeichnungen und Fotos wird mehr von Laibs Erfahrungswelt erkennbar. Zwölf Zeichnungen – kleine weiße Kegel, mit Pastellkreide gezeichnet auf leicht getöntes Papier, illustrieren die Gesänge des tibetischen Yogi Milarepa. Die Fotos zeigen, was Laib auf seinen Reisen, vor allem im ländlichen Südindien, beobachtet: einen hinduistischen Tempel, eine Opfergabe auf einem Findling in einem Reisfeld.

Ulrike Groos, die Direktorin des Kunstmuseums, hat den Künstler in seinem Domizil bei Biberach besucht. “Er hat dort zwischen Wald und Wiesen einen Glaspavillon gebaut”, erzählt sie ganz begeistert, “aus dem heraus man seltene Schmetterlinge beobachten kann, die von der Pflanzenwelt angezogen werden.” Zur Ausstellung entsteht ein Film, der am 19. Juli Premiere hat und dann in der Ausstellung zu sehen sein wird. Er zeigt den Künstler an seinen beiden Wohnsitzen.