Die Ausstellung Renaissance 3.0 im ZKM, 25. März 2023 bis 7. Januar 2024.
Ein Mann und eine Frau atmen in einen Glaskolben. Aus kurzer Entfernung sehen sie sich direkt in die Augen. Ihr Atem kondensiert. Er enthält neben 93 Prozent menschlicher DNA auch 6700 Mikrobenarten, die der Mann, der Genomwissenschaftler Jimmy Breen, analysiert hat. Die Namen dieser Mikroben hat die Komponistin Amanda Cole zu einem achtstimmigen Chorwerk verarbeitet. Die Daten leuchten als Zahlenkolonnen an den Wänden auf. Die Frau im Video ist die australische Künstlerin Helen Pynor, die diese Arbeit konzipiert hat.


Es kommt nicht oft vor, dass sich Wissenschaft und Kunst so buchstäblich auf Augenhöhe gegenüber stehen. Auch nicht in dieser Ausstellung, die sich ein “Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert” nennt. Das ist, neudeutsch, das Wording von Peter Weibel, als dessen letzte Ausstellung Renaissance 3.0 auch bezeichnet wird. 3.0 deshalb, weil Weibel die Renaissance, in Übereinstimmung mit Hans Belting, dessen Buch Florenz und Bagdad in der Ausstellung ausliegt, in der islamischen Welt des 9. Jahrhunderts beginnen lässt. Ein Nachbau eines Musikautomaten, der ähnlich wie ein Walzenklavier nach einem vorprogrammierten Code die Klappen eines Rohrblattinstruments betätigt, ist in der Ausstellung zu sehen.
Renaissance 3.0 sei aus der Ausstellungsgeschichte der letzten Jahre hervorgegangen, sagt Anett Holzheid, die leitende Kuratorin: Ausstellungen seit der Globale 2015, zu der Allahs Automaten gehörte, Ausstellungen wie Open Codes, die eine ganz neue Herangehensweise etablierten, weg von der Kunstbetrachtung, hin zu einer selbstermächtigenden Aneignung digitaler Werkzeuge. So sind denn, nach der historischen Einführung, auch ganz andere Arbeiten, andere Arten von Arbeiten zu sehen, als man sie in anderen Kunstausstellungen zu sehen bekommt. Arbeiten, die mit Mikroskopie und Mikrobiologie experimentieren, die mit künstlicher Intelligenz, unkonventionellen Materialien und eigenen technologischen Werkzeugen arbeiten. Die in einigen Fällen aus der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst resultieren, wenn sich auch genau hier vielfach zeigt, dass diese beiden Bereiche eben keine gleichen Schwestern sind.
Ungleiche Schwestern
Thomas Feuerstein etwa, der einen ganzen Raum bespielt, arbeitet mit einem Team von nicht weniger als 17 Mikrobiologen, Maschinenbauern und anderen Experten zusammen. Die Kolben und Apparaturen, die hier im Raum stehen, zeugen von einem Aufwand, wie er sich in der Kunst sonst nur selten realisieren lässt. Die Wände sind tapeziert mit chemischen Strukturformeln, vom Künstler zeichnerisch überarbeitet. Metabolica nennt er seine Arbeit, das erinnert an Metallica, und in Richtung Heavy Metal geht auch die Ästhetik. In den Kolben zersetzt ein Bakterium kultivierte Algen und macht daraus ein Biopolymer, aus dem Feuerstein wiederum mit dem 3D-Drucker den Kopf des David von Michelangelo druckt, während die Bakterien in einem anderen Kolben dessen Hand wieder zersetzen. Kreislaufwirtschaft statt fossiler Energie, lautet die Botschaft des Künstlers. Aber warum Michelangelo? Was hat Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer in der Arbeit verloren?
Zwischen neueren Arbeiten und Werken aus der Sammlung des ZKM, etwa mikroskopischen Filmaufnahmen von Plankton, dem Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste von Louis Bec, der 1972 mit Vilém Flusser imaginäre Lebewesen entwarf, bis hin zu den “spekulativen Lebensformen” des KI-Projekts Codex Virtualis lassen sich vielerlei Korrespondenzen entdecken. Oder zwischen verschiedenen Arbeiten, die Röntgenbilder des Stimmapparats beim Sprechen oder Singen zeigen. Es gibt auch ganz kleine, schlichte Arbeiten wie Daniel Canogars Pneuma 4: Telefonkabel aus dem Elektroschrott, die durch effektvolle Beleuchtung zu einem bunten Leben erwachen. Eher sinnbildlich ist die Installation von Constanza Piña Pardo zu verstehen, die die Khipu-Knotenschnüre der Inka sehr ästhetisch über feine Kupferdrähte an eine Platine anbindet, die Sternbildern nachempfunden ist. Ebenso sinnlich das Netz, das Tomás Saraceno gesponnen hat, angelehnt an Spinnweben und platonische Körper, wobei die Besucher die Fäden wie ein Musikinstrument bespielen können.


Weibel selbst war auch beteiligt, unter anderem mit der Idee zu einem “Wissensfeld”: Begriffe wie Sonifizierung, Richterskala oder Künstlerische Forschung sind auf den Boden gebeamt. Wer sich darauf stellt, wird mit dem Wort eingekreist. Von dem Kreis ausgehend, der nun auch den Schritten des Eingekreisten folgt, bildet sich eine Linie zu einer der beiden Leinwände auf jeder Seite des Felds, wo dann die Erklärungen stehen. Das funktioniert zwar im Moment des Besuchs nicht ganz, was aber insofern entschuldbar ist, als der Programmierer Christian Lölkes gleichzeitig die 21. Gulaschprogrammiernacht organisiert, zu der 2000 Programmierer aus dem Kreis des Chaos Computer Clubs erwartet werden. Eines ist der Ausstellung sicher nicht abzusprechen: dass sie ein buntes Panorama überraschender Arbeiten zeigt, wie man sie sonst selten zu sehen bekommt. Eine große Spielwiese, zum Teil auch zum Mitmachen.
Andere Codierungen
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche Absichten sich damit verbinden. Holzheid spricht von Weibels Philosophie. In der Ausstellung heißt es bescheidener “Gedankenskizze”, das klingt wieder nach O-Ton Weibel. Was ist aber mit einer Arbeit wie Helen Pynors 93% Human gesagt? Beobachtet oder versinnbildlicht sie, was in der Wissenschaft geschieht, ist sie in der Lage, ein neues Licht darauf zu werfen? Manche Arbeiten sind ästhetisch, andere politisch motiviert, wieder andere arbeiten spekulativ, funktionieren als Sinnbilder oder nutzen ganz einfach, von ihren eigentlichen Zwecken befreit, Verfahren und Werkzeuge der Naturwissenschaften. Wenn aber ein Industrieroboter in jeweils einwöchiger Arbeit in ein rund 80 x 80 Zentimeter großes Quadrat einen Ausschnitt der Marslandschaft mit Kugelschreiber einzeichnet: Ist das mehr als technische Spielerei? Ein “Basislager” will die Ausstellung sein – das suggeriert Höhenluft beim weiteren Aufstieg. Von einem gemeinsamen “Pool of Tools” ist die Rede. Was aber verbindet Wissenschaften und Künste?


Zum Eröffnungssymposium waren zwei Nobelpreisträger/innen gekommen, ein dritter, Adam Riess, per Aufzeichnung eingespielt. Christiane Nüsslein-Volhard, Nobelpreisträgerin für Physiologie oder Medizin, zog eine Parallele zwischen Ornamenten und Lauten der Tiere und den künstlerischen Äußerungen des Menschen. Schon Darwin sei aufgefallen, dass sich nicht alles mit dem Überlebenskampf begründen lässt. In einem zweiten Werk, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, 1871 erschienen, behandelte Darwin die Funktion der Schönheit, die, so Nüsslein-Volhard, eine subjektive Bewertung impliziere, gerade so wie in der menschlichen Kunst. Stefan Hell, Träger des Nobelpreises für Chemie, wiederum schilderte, wie er darauf kam, das Lichtmikroskop zu einer Auflösung weiter zu entwickeln, wie sie bis dahin für unmöglich gehalten wurde – unter anderem, weil sich das Elektronenmikroskop nicht für lebende Materie eigne. Der Berührungspunkt zur Kunst bestand in diesem Fall in der Frage der Idee, der Eingebung. Allerdings machte Hell deutlich, dass es neue Ansätze im heutigen, häufig zweckgebundenen Forschungsbetrieb, immer überwacht von den strengen Augen der Peer Reviews, durchaus schwer haben.
Wenn eine Philosophie hinter der Ausstellung steht, so gibt es da auch einige blinde Flecken. In einem Gespräch, auf der Website des ZKM nachzulesen, sagte Weibel, die arabische und italienische Renaissance hätten eine Verwissenschaftlichung vorangetrieben. Allerdings gab es die heutigen Begriffe von Wissenschaft und Kunst damals noch nicht. Lateinisch ars und griechisch techne standen gleichbedeutend für jedwede menschliche Fertigkeit. Mit Wissenschaft oder Verwissenschaftlichung ist hier nun fast immer nur Naturwissenschaft, genau genommen zumeist eher Technologie gemeint. Weibel prognostiziert, dass die Lebenswissenschaften in Zukunft stärker in den Fokus rücken würden, also Biologie und verwandte Fächer. Ausgespart bleibt dagegen der gesamte Bereich, der im Englischen unter dem Begriff Humanities steht: in Deutschland Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Und das trotz eines genealogischen Bezugs zum Humanismus, dem zentralen Begriff der Renaissance. Der Mensch stand damals im Mittelpunkt, nicht nur als Objekt wissenschaftlicher Untersuchung, sondern als denkendes und handelndes Wesen, das sich, auch historisch, selbst reflektiert.
Die KI ist nicht wirklich intelligent
Zu dieser Art von Wissensproduktion können Apparate nur wenig beitragen. Allerdings ist zu bedenken, dass sich das ZKM ursprünglich “Zentrum für Kunst und Medientechnologie” nannte. Es wurde gegründet, um die technologischen Möglichkeiten der Kunstproduktion zu erweitern. Weibels Gedankenskizze besteht darin, diesen Ansatz über die digitalen Codes der Medienkunst hinaus auf andere Codierungen wie die Khipu-Schnüre der Inka oder die mikrobiologischen Codes der DNA zu erweitern. Es handelt sich nicht wirklich um ein in allen Details durchdekliniertes philosophisches System, vielmehr sind verschiedene, durchaus heterogene Arbeiten versuchsweise in den Raum gestellt. Dass andererseits mehr dahinter steht als eine assoziative Aneinanderreihung von Dingen, die irgendwie in den Zusammenhang passen, zeigt das Tool Lab, die Herzkammer der Ausstellung. Ein Zeitstrahl reicht von al-Chwārizmī im Jahr 828 bis zur heutigen Allgegenwart der Algorithmen, die nach seinem Namen benannt sind. Die ersten Computermäuse sind zu sehen, ebenso der 1970 von Oskar Beckmann für seinen Vater Otto gebaute “Ateliercomputer”. Vermutlich schon für Weibel selbst war in jüngeren Jahren der Whole Earth Catalog von Stewart Brand wichtig. Hier wie in der Zeitschrift Radical Software verband sich die Gegenkultur um 1970 mit den Versprechungen der Digitalisierung.
Für Holzheid zeigt sich der Geist, den die Ausstellung verkörpert, in einem großformatigen Schwarzweißfoto. Es zeigt sieben gut gelaunte junge Wissenschaftler 1956 beim Dartmore Summer Resarch Project on Artificial Intelligence, das den Begriff der künstlichen Intelligenz in die Welt gesetzt hat: eine fröhliche Wissenschaft, eher verwandt mit den kreativen Herangehensweisen der Kunst als mit dem heutigen (Natur-) Wissenschaftsbetrieb. Die Sache hat nur einen Haken: Die künstliche Intelligenz ist nicht wirklich intelligent. Sie enthält Rückkopplungsschleifen, kann aber niemals wie der Mensch sich selbst reflektieren und auch keine Kunstwerke erschaffen. Oder nur, wenn sie daraufhin programmiert wurde.