Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute, Kunstmuseum Wolfsburg, 13. Mai bis 24. September 2023.
Im Kunstmuseum Wolfsburg geht eine Ausstellung aktuell den Spuren kollektiver kollaborativer Kreativität im Kontext einer europäischen und US-amerikanischen Kunst- und Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts nach. Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute ist ein deutsch-französisches Partnerprojekt, das nach Station im Marseiller Mucem nun in variierter Form in der niedersächsischen Autostadt zu sehen ist.
Freiheit zum Experiment
Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute setzt auf Arbeiten, die mit den Ideen des genialen Einzelkünstlers und des Individuums als Zentrum der Erkenntnis brechen und die vielmehr von den Synergien zeugen, die entstehen, wenn befreundete Künstler zusammenkommen und spontan und punktuell in einen Prozess der Co-Kreation treten. Spontaneität und Impulsivität zeichnen die präsentierten Gemeinschaftswerke aus – geht es der Kuratorin Blandine Chavanne und dem Künstler Jean-Jaques Lebel, die gemeinsam für die Ausstellung verantwortlich zeichnen, doch um die Erforschung des Wesens kreativer Prozesse, des Zufälligen im Akt des Kreierens, um experimentelle künstlerische Techniken.

Grundlegende Entdeckung ist für Lebel “this great paradox which was confirmed again and again from the 19th century to the present day that there is much more freedom to experiment and stimulation to experiment when the artists involved are in a collective movement rather than when they are alone in their individual studios.”1 Das Kollektive ermögliche neue Wege des Erkennens und Selbsterkennens. Insbesondere im Rahmen von Freundschaften entstehe oftmals aus einer impulsiven Geste heraus etwas Innovatives. Andere Formen der künstlerischen Zusammenarbeit – wie die von Künstlerpaaren – tendierten hingegen, weil diese ein Leben teilten, zu Wiederholung und eingefahrenen Mustern.
Free Jazz, Rhizom und Third Mind
Mit Beispielen nicht nur aus der bildenden Kunst, sondern auch aus Literatur, Musik, Film und Philosophie stellen Chavanne und Lebel ihre Thesen auf ein breites Fundament. Bereits im Eingangsbereich zur Ausstellung begegnet eine Plane mit dem Cover des Albums Free Jazz / A Collective Improvisation von Ornett Coleman, das 1960 im Doppelquartett aufgenommen und 1961 veröffentlicht wurde und eine neue Spielrichtung des Jazz begründete. Gestaltet ist das Cover mit einem Durchblick auf Jackson Pollocks Action Painting White Light (1954), das die Innenseite der Plattenhülle ziert – ein subtiler Hinweis auf verbindende Prinzipien von Malerei und Musik. Für Lebel sind Colemans Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Albums eine Art poetisches Resümee der Ausstellung. “You can hear the others continue to build together so beautifully that the freedom even becomes impersonal”,2 sagte der Musiker über das eingespielte Stück. “In other words, individuality was dissolved into a collective vein, a collective effort, a collective movement of the minds which created another individuality which was a collective individuality”,3 fügt Lebel hinzu. Die in einer Vitrine präsentierte Schallplatte beschließt die Ausstellung.
Ähnlich programmatisch wie das Album Free Jazz werden die gemeinschaftlich verfassten Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari behandelt, die ebenfalls in einer Vitrine ausgelegt sind. Ihre Ideen eines kollektiven Äußerungsgefüges, des Sich-Ereignens, Werdens und Widerfahrens, des wuchernden, azentrischen und unhierarchischen Rhizoms, einer Autogenese des Denkens, stehen Pate für das Konzept der Ausstellung. Als Freunde sind Deleuze und Guattari einander Impulsgeber, die schreibend ihre Thesen vollziehen. Zwischen ihnen findet kein Dialog, sondern ein “Denken zu zweit”4 statt.



Den programmatischen Reigen ergänzt sodann die Gemeinschaftspublikation The Third Mind (1978) von William S. Burroughs und Brion Gysins. Darin finden sich Beispiele der so genannten Cut-ups, die Burroughs und Gysin in den 1960er-Jahren entwickelten: Text- und Bildmontagen, die der Zufall zusammengefügt hatte. Der Titel des Buches ist Napoleon Hill entlehnt, der in seinem Bestseller Denke nach und werde reich 1937 den dritten Geist, als jenes Surplus beschrieben hatte, das entsteht, wenn zwei Geister zusammenkommen. 1966 übertrugen Burroughs und Gysin die Cut-up-Technik zusammen mit Antony Balch auf das Medium Film. Dazu fügten sie Sequenzen vier verschiedener Filmrollen aneinander. Das Ergebnis The Cut-ups ist in Wolfsburg zu sehen.
Vom Spiel zur Aktion
Fantastische frühe Beispiele eines gemeinschaftlichen kreativen Spiels und ein ausgezeichneter Startpunkt der Ausstellung sind die Cadavres exquis der Surrealisten –Faltpapierspiele, bei denen eine Person ein Satzelement oder eine Zeichnung einer anderen Person fortsetzt, ohne das Fortzusetzende zu kennen. Seinen Namen erhielt das Spiel vom auf diese Weise entstandenen Satz “Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau“ (Der exquisite Leichnam wird neuen Wein trinken). Gleichermaßen spannend sind die Dessins communiqués – Bilder, die aus dem Gedächtnis nachgezeichnet werden, und das wiederholt. Die Cadavres exquis wie die Dessins communiqués begeistern mit ihren metamorphischen Kreaturen, mit Skurrilem und Komischem.
Die Aktionskunst der 1950er- und 1960er-Jahre – in der Ausstellung vielfältig vertreten – greift die experimentellen, unkonventionellen und antibürgerlichen Ansätze von Surrealismus und Dada wieder auf. Mit Beuys Vox, Nam June Paiks Hommage an den verstorbenen Freund Joseph Beuys, wird ein Werk präsentiert, das durch Einbezug von Archivalien und Fotografien von der langen und wechselseitigen Einflussnahme der beiden Künstler berichtet. Geprägt war ihr gemeinsames künstlerisches Schaffen, nicht nur von geplanten Kooperationen, sondern ebenso von spontanen Aktionen.
Politische Dimension
Eine zentrale Arbeit der Ausstellung, die vor allem auch die politische Dimension kollektiver Zusammenarbeit anspricht, ist das von Jean-Jacques Lebel initiierte Grand tableau antifasciste collectif. Dieses entstand 1960 in Reaktion auf die Folterung und Vergewaltigung der algerischen Widerstandskämpferin Djamila Boupacha durch französische Polizisten und Soldaten. Boupachas Schicksal war kein Einzelfall, doch hatte sie sich nicht stummstellen lassen und klagte die Täter zusammen mit der Anwältin Gisèle Halimi an. Für weltweites Aufsehen sorgte der Fall, nachdem Simone de Beauvoir einen Artikel über die Geschehnisse in Le Monde veröffentlicht hatte. In der Folge verfassten Halimi und de Beauvoir gemeinsam ein Buch über Boupachas Fall und Geschichte.
Lebel erzählt, dass ihn eine große Wut über das Verbrechen an Djamila Boupacha packte und er daraufhin begann, an der Leinwand zu malen. Er lebte damals in Mailand und arbeitete im Atelier des Malers Roberto Crippa. Jedes Mal, wenn ihn befreundete Künstler im Atelier besuchten, forderte er sie auf, das Werk fortzusetzen. So beteiligten sich Enrico Baj, Roberto Crippa, Gianni Dova, Erró und Antonio Recalcati. Die Arbeit war beendet, als die Leinwand keinen Platz mehr bot. Entstanden war ein Werk der Anklage gegen die Verbrechen des Kolonialismus. 1961 wurde das Grand tableau während einer Ausstellung von der Mailänder Polizei aus dem Rahmen gerissen, gefaltet und beschlagnahmt. Erst 1988 ging es zurück an seinen Urheber. Heute erzählen die Spuren der Beschlagnahmung von der bewegten Geschichte des Bildes und seiner Wirkkraft.

Wo sind die Freundinnen?
Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute ist ein ambitioniertes Projekt, das mit der Herstellung unendlich vieler Verknüpfungen begeistert, zugleich aber Gefahr läuft, seine Betrachterinnen und Betrachter im Dickicht der Verästelungen zu verlieren. Neben Werken der Surrealisten, der Aktionskünstler und der Beat Generation zeigt die Ausstellung u. a. auch Gemeinschaftsarbeiten der “Neuen Wilden”, der Künstlergruppe CoBrA oder der Guerrilla Girls. Letztere sind mit ihrem Plakat Do women have to be naked to get into the Met. Museum? von 1989 vertreten. So recht will diese Arbeit allerdings nicht in die Ausstellung passen. Womöglich wurde sie ausgewählt, um den geringen Anteil an Künstlerinnenpositionen auszugleichen. Doch wirft das Plakat einmal mehr die Frage nach den Frauen in der Kunst auf, die in der Ausstellung nur am Rande erscheinen.
Ende des Abendlandes?
Mit der Ergründung kollektiven Kunstschaffens hat die Wolfsburger Ausstellung Teil an einem hochaktuellen Diskurs, dem – wie die Diskussion um die documenta fifteen und die Berufung des Künstler- und Kuratorenkollektivs ruangrupa allerdings deutlich gemacht hat – zuweilen mit großer Skepsis begegnet wird. So war der Skandal um die antisemitischen Inhalte des kurz nach der Eröffnung der documenta auf dem Kasseler Friedrichsplatz enthüllten Banners People’s Justice des indonesischen Kollektivs Taring Padi ein gefundenes Fressen, gleich das ganze Konzept kollektiver Kunstproduktion und Kuration zu diskreditieren. Der Kunsttheoretiker Bazon Brock ging so weit zu behaupten, mit der Entscheidung für ruangrupa, ein Leitungsteam des “globalen Südens”, hätte man die Kunst re-fundamentalisiert, re-faschistisiert und der westlichen Idee von Autorität durch Autorschaft ein Ende gesetzt. Es wäre allein ein Herrschaftsgestus geblieben. Die Macht der “Kulturkollektive” hätte die abendländische Errungenschaft machtfreier Überzeugungskraft eines Individuums liquidiert.5 Die Wolfsburger Ausstellung liefert nun ein eindrucksvolles Gegenargument.
1 Jean-Jacques Lebel während einer Einführung zur Ausstellung für freie Mitarbeiter:innen des Kunstmuseums Wolfsburg am 03.05.2023.
2 Ornett Coleman, zitiert im Text der Schallplattenhülle Free Jazz/A Collective Improvisation, Atlantic Records, 1961.
3 Jean-Jacques Lebel, Einführung zur Ausstellung, 03.05.2023.
4 Michaela Ott: Gilles Deleuze zur Einführung, Hamburg, Junius, 2005, S. 24.
5 Vgl. Bazon Brock: Der Fluch der guten Tat. Kulturalismus erledigt die Kunst, Köln, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, 2022.