Katrin Ströbel ist die erste Papierkunst-Stipendiatin der Stadt Waiblingen.
Die Galerie Stihl widmet ihr eine große Einzelausstellung.
Die Arbeiten von drei Nachwuchs-Stipendiatinnen sind im Kameralamt zu sehen.
“Frau Mayr-Stihl ist aus allen Wolken gefallen”, erzählt Katharina Edlinger, die Pressefrau der Eva Mayr-Stihl Stiftung in Waiblingen, bei der Eröffnung der Ausstellungen in der Galerie Stihl und im Kameralamt. Am 2. Januar 2020 hatte Edlinger einen Brief des Stuttgarter Nachlassgerichts geöffnet: Eine Renate Reichert hatte verfügt, ihre Hinterlassenschaft – laut Zeitungsverlag Waiblingen (ZVW) 550.000 Euro – solle vermittels der Stiftung der zeitgenössischen Kunst und der Nachwuchsförderung zugutekommen. Niemand wusste, wer diese Frau Reichert war, in welcher Beziehung sie zur Galerie Stihl gestanden hatte oder welche Art von Kunst sie schätzte.
Nach intensiven Beratungen des Gemeinderats und der Stiftung fiel die Entscheidung zugunsten eines Stipendiums für Zeichnung und Papierkunst, das nun im ersten Durchgang an Katrin Ströbel ging, und die drei Nachwuchsstipendien an Khadija El Abyad aus Marokko, Valentine Gardiennet aus Frankreich und Nele Hendrikje Sandner aus Leipzig. Alle vier haben einen Monat in Waiblingen gearbeitet, die drei Jüngeren auch betreut von Ströbel, die bereits in der fünfköpfigen Jury saß, die sie aus über 100 Bewerbungen ausgesucht hat.

Ströbel hat in Stuttgart studiert und lebt seit 2004 in Marseille, wie sie sagt, eine “Schnittstelle zu anderen Welten”. Sie ist in verschiedene afrikanische Länder gereist, um “die eigene Arbeit in einem Kontext zu reflektieren, der nicht der europäische ist”: Senegal, Nigeria, Südafrika und immer wieder die Maghreb-Staaten, allen voran Marokko. In Rabat hat sie ihren Partner Mohammed Laouli kennengelernt, auch er Künstler. Die letzten zehn Jahre war sie Professorin für Zeichnung an der Villa Arson in Nizza. Dass nun eine Marokkanerin unter den Nachwuchsstipendiatinnen ist, war Zufall. Bei Gardiennet, ihrer Schülerin in Nizza, habe sie sich der Stimme enthalten, erklärt sie. Ein schöner Zufall ist auch, dass Ströbel ungefähr zwei Monate, nachdem sie als Stipendiatin ausgewählt worden war, einen Ruf als Professorin an die Stuttgarter Kunstakademie erhielt.
Die Stadt Waiblingen zögert
Die Galerie Stihl ist die Galerie der Stadt Waiblingen. Sie wäre aber ohne Eva Mayr-Stihl, die Schwester des Kettensägen-Milliardärs Hans Peter Stihl, wohl nicht entstanden. Viele Jahre lang hatte sich der Kunsthistoriker Helmut Herbst, der bereits ein historisches Museum ins Leben gerufen hatte, um eine städtische Galerie bemüht, die dann erst 2008, zwei Jahrzehnte später als in anderen Städten des Stuttgarter Umlands, zustande kam, eben weil die Eva Mayr-Stihl Stiftung den Bau finanzierte. Am Portfolio der Stiftung haben Kunst und Kultur einen Anteil von nur drei Prozent. Die Stadt Waiblingen hingegen dachte besorgt an die laufenden Kosten: Die ovale, außen mit Industrieglas verkleidet Halle wäre für plastische Arbeiten gut geeignet gewesen. Doch Waiblingen entschied sich, Arbeiten auf und aus Papier in den Mittelpunkt zu stellen. Nur gab es in dem Bau zunächst gar keine Wände.
Die Konzentration auf Papier hatte Auswirkungen auf das Programm. Es war nun möglich, mit großen Namen zu punkten, von Dürer und Rembrandt bis Nolde und Picasso. Damit und mit populären Themen von Wilhelm Busch bis Loriot und zuletzt Ilon Wikland, der Illustratorin der Kinderbücher Astrid Lindgrens, spricht die Galerie in erster Linie ein lokales Publikum an. Ausstellungen, die über Waiblingen hinaus auf Interesse stießen, kamen dagegen bisweilen auch durch Anstöße von außen zustande: Gisela Sprenger-Schoch, die damalige Leiterin der mit der Galerie verbundenen Kunstschule, kuratierte 2009 eine der ersten Ausstellungen zur künstlerischen Arbeit von John Cage. Zwei Jahre später erarbeitete die Stuttgarter Kunstakademie zu ihrer 250-Jahr-Feiern eine Zusammenfassung zur Geschichte der Lithografie. 2016 folgte ein erster Überblick über die Bestände des Siebdruck-Pioniers Luitpold Domberger, denen Filderstadt in der früheren Werkstatt der Siebdrucker in Plattenhardt inzwischen ein eigenes Museum gewidmet hat.
Einem Anstoß von außen verdankt sich nun auch das Papierkunst-Stipendium. Katrin Ströbel, da hat die Galerieleiterin Anja Gerdemann recht, ist dafür eine Idealbesetzung. Ihre bisher größte Einzelausstellung zeigt Arbeiten aus mehr als fünfzehn Jahren, die sie durch Interventionen vor Ort in neue Zusammenhänge rückt. Denn die kreuz und quer im Raum stehenden Stellwände dienen ihr nicht nur als Support für die Hängung. Vielmehr hat die Künstlerin während ihres Aufenthalts in Waiblingen auch direkt auf die Wände gezeichnet. Wie auf ihren Reisen in andere Länder, setzt sie sich dabei auch hier mit ihrer Umgebung auseinander.
Pinup mit Kettensäge



Links: Katrin Ströbel, I come in Peace, 2023. Mitte: Katrin Ströbel, bitim-réew, 2009. Postkarte aus dem Senegal. Rechts: Katrin Ströbel, Casablanca décalé, 2015. Alle Fotos: Joachim E. Röttgers.
“Don’t say she’s not like that every girl is like that every fucking girl”, steht in einer horizontalen Reihe von Bilderrahmen, jedes Wort einzeln gerahmt, wie um es mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Der letzte Rahmen ist etwas zur Seite gerückt, um genau auf Höhe der Schrift den Blick freizugeben auf das Geschlecht, eigentlich das Höschen einer überlebensgroßen Frauenfigur: mit BH, nachlässig geöffneten Stiefeln, einem schräg um die Hüften geschlungenen Werkzeuggürtel und in der linken Hand einer Kettensäge. Es handelt sich um ein Motiv aus dem Stihl-Kalender, der bis 2020 die erotischen Fantasien der männlichen Kunden des Waiblinger Weltkonzerns beflügelte. Hans-Peter Stihl hat den Pinup-Kalender 1973 in dieser Form eingeführt, im selben Jahr, als er die Geschäfte übernahm. Der Kalender wurde eingestellt, als das schwedische Forstinstitut 2020 drohte, wegen der sexistischen Werbung keine Stihl-Produkte mehr zu erwerben. Ströbels Model trägt den Kopf eines Tyrannosaurus Rex. Der zeigt die Zähne. Titel: I come in peace.
Zeichnen bedeutet für Ströbel mehr als die Herstellung von Bildern. Sie denkt das Trägermedium mit, das Verhältnis von Schrift und Bild, den eigenen Körper und die Geschlechterrollen, die Blickbeziehungen, das geografisch und kulturell Andere ebenso wie die postkolonialen Verhältnisse. Nackte Frauenkörper wirbeln durch den Raum: groß auf der ersten Wand, wenn man den Saal betritt, als Tapetenmuster auf einer der nächsten. Ein Bild eines selbstbewussten, ungenierten, die eigenen Grenzen austestenden Körpergefühls: schwerelos, ungebunden, aber, je nachdem, wie man es wendet, auch haltlos. Die Tapete dient als Grund für zwei bezeichnete Body Suits, ein T-Shirt und ein Hoodie, denen eine Collage aus der Serie Body Politics an die Seite gestellt ist. Der Titel versteht sich hier wörtlich: Um eine rote Fahne mit Troddeln versammeln sich im Sibirien der 1950er-Jahre Frauen. Die zentrale Figur hat im Ausgangsbild ein Schild mit einem Lenin-Porträt vor sich abgestellt. Die Künstlerin hat es durch einen rosa Unterleib ersetzt und entblößt so die Trägerin.


Links: Katrin Ströbel, I come in Peace, 2023. Rechts: Katrin Ströbel, Casablanca décalé, 2015. Alle Fotos: Joachim E. Röttgers.
Ströbel Zeichnet in der U-Bahn von Barcelona. Auf ihrer ersten Reise in den Senegal fertigt sie Postkarten an und reflektiert so ihre Position als Touristin. Die Dachlandschaft von Casablanca hält sie auf zwei großen Blättern fest, denen anzusehen ist, dass sie zu einem handlichen Format zusammengefaltet waren: Sie trägt ihre Reiseeindrücke mit sich. In einer Reihe beeindruckender Blätter setzt sie sich mit der arabischen Schrift und Ornamentik auseinander. Doch die Fremde ist nicht einfach nur anders. Sie ist auch geprägt von der kolonialen Geschichte und postkolonialen Machtverhältnissen. Von der Île de Gorée, heute eine Urlaubsinsel, starteten einmal die Sklavenschiffe. Ventilatoren blasen Luft unter die vielen Blätter, auf die sich eine Darstellung verteilt. Das Bild der Palmen wird instabil.
Auf einem dreiteiligen Klappspiegel hat die Künstlerin eine weiße Beschichtung aufgebracht und darin das Bild einer indigenen Frau eingeritzt. Es stammt aus einem 1908/09 erschienenen Buch der Anthropologin Elisabeth Krämer-Bannow mit dem unglaublichen Titel “Die kunstsinnigen Kannibalen der Südsee. Wanderungen auf Neu-Mecklenburg”. Die weiße Farbe, die Spiegelungen auf dem spießigen 50er-Jahre-Möbel veranlassen den Betrachter oder die Betrachterin, die eigene Position gegenüber einem solchen Bild mitzudenken.
Das Undarstellbare
Nicht nur ihre Kunst reflektiert Ströbel aus einer außereuropäischen Perspektive, sondern auch die deutsche Geschichte. Die 18-teilige Serie Inherited Shame zitiert Bildunterschriften von Zeitungen aus australischen Archiven, die sich auf die NS-Zeit beziehen. “Execution carried out by the Einsatzgruppen” steht auf einem Blatt. Auf einem anderen ist von einem Protest der “Aboriginees” gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland die Rede. Die dazu gehörigen Bilder fehlen, die Blätter sind schwarz. Die Künstlerin verweigert den voyeuristischen Blick auf die Untaten. Das Schwarz lässt sich aber auch als das Dunkle, Böse oder Verdrängte deuten: das Undarstellbare, um es mit einem Wort zu sagen. Schwarz kehrt auch in der aktuellen Serie Les confiné.e.s wieder, als Fläche, die Gesichter und Figuren umschließt, bezogen auf die Isolation durch den Corona-Lockdown.
Vor zwei Jahren hat Ströbel den Hans-Molfenter-Preis des Stuttgarter Kunstmuseums erhalten und war in der Sammlung Klein in Eberdingen-Nussdorf ausgestellt. Die Ausstellung in Waiblingen gibt in diesem Umfang erstmals einen Einblick in ihr Gesamtwerk, das aktuelle Fragen zu Geschlechterrollen und den von der Kolonialgeschichte geprägten Nord-Süd-Verhältnissen eher vorwegnimmt als aufgreift: auf eine ganz eigenständige Weise und, wo die Thematik das zulässt, gern auch mit einer Prise Humor.



Die Arbeiten der drei Nachwuchsstipendiatinnen sind im Kameralamt ausgestellt, wo sie auch entstanden sind. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Gardiennet zeichnet bunte, Comic-artige Figuren, wobei sie ihr eigenes Porträt oder die von Freunden gern mit einbezieht. Sandner schöpft selbst Papier, das sie zu flächigen, farbigen Formen verarbeitet. El Abyad zeichnet ausschließlich feine, schwarze Linien, die sehr suggestiv an Haare erinnern. Sie geht so weit, dies mit echtem Haar ins Dreidimensionale zu erweitern. Auf subtile Weise rührt sie damit an Tabus, nicht unbedingt nur der islamischen Welt.
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Die Ausstellungen laufen bis 8. Oktober, https://www.papierkunststipendium.de