Zwei Fotografen, die das Leben junger Menschen im Ukrainekrieg schildern.
“Ich konnte mich in meiner fotografischen Arbeit mit keinem anderen Thema mehr befassen als mit diesem Krieg. Nichts fühlte sich so relevant an. Ich beschloss, nach Kyjiw zu reisen”, erzählt mir der Fotograf Sebastian Wells. Am Tag des russischen Einmarschs hielt sich der Studierende der Hochschule Bielefeld im Rahmen eines Austauschprogramms in Belgien auf. Von dort aus fuhr er im April 2022, nachdem die russischen Truppen zunächst von der Landeshauptstadt zurückgedrängt worden waren, mit dem Zug nach Kyjiw.
Bereits nach zwei Tagen in Kyjiw aber fühlte sich Wells wie ein Kriegstourist, erkannte keinen Sinn im Beobachten der Wirren der Stadt. Ohne gleichaltrige Kreative kennengelernt und sich mit ihnen ausgetauscht zu haben, wollte er Kyjiw jedoch nicht verlassen. “Als Dokumentarfotograf hatte ich bereits in Krisengebieten gearbeitet, so etwa während der Proteste in Hongkong gegen den Einfluss Chinas oder als das Lager der Geflohenen nahe Moria auf Lesbos brannte. Im Angesicht eines Krieges wusste ich meine Kamera allerdings nicht mehr zu gebrauchen, hatte keine Antwort darauf, wie sie einzusetzen wäre.”



Nichts ist seit dem 24. Februar 2022 mehr, wie es vorher war
Über Social Media lernte Sebastian Wells Vsevolod Kazarin kennen, der an der Kyiv National University of Culture and Arts Fotografie studierte. Erst wenige Tage vor dem Einmarsch der russischen Truppen hatte er ein Fotoshooting in seinem Atelier organisiert. Dann rührte er seine Fotokamera nicht mehr an: Ohne Presseausweis war es in den Wochen, in denen russisches Militär Kyjiw umringte zu gefährlich, mit einer Kamera gesehen zu werden, zu fotografieren. Der 24. Februar 2022 markierte für ihn als Mensch unter jenen, die mit Ausbruch des Angriffskrieges Mensch geblieben sind, einen Wendepunkt. Gegenüber der Frage, welchen Wert die eigene Fotografie inmitten und im Angesicht des Krieges (noch) haben könnte, starteten Vsevolod Kazarin und Sebastian Wells ein gemeinsames Projekt: die fotografische Serie 32 Young People.
“Mit diesen fotografischen Aufnahmen zu beginnen, war ein intuitives Vorgehen”, sagt Kazarin. Er und Wells gingen einen Tag, nachdem sie sich Ende April 2022 kennengelernt hatten, gemeinsam mit ihren Kameras zu Fuß durch Kyjiw mit dem Ziel, junge Menschen anzusprechen, um sie zu fotografieren. “Wir sind keine Kriegsfotografen”, fügt Vsevolod Kazarin hinzu, “aber wir wollten junge Menschen in Kyjiw zeigen, die sich nicht verstecken, die zugleich geschützt werden müssen vor dem Krieg und die ein Recht auf Freiheit haben. Es sind Menschen unseren Alters, die in einem unabhängigem Land namens Ukraine geboren und aufgewachsen sind und die sich jetzt einem Angriffskrieg stellen müssen. Wie sieht diese junge Generation aus, welche Posen hat sie inne, welche Gefühle tragen sie in sich und welche Kleidung an ihren Körpern?”
Fernab von Zerstörung ein freies Denken bewahren
Ziel der Fotografen war, ein visuelles Statement zu formulieren, um zu zeigen, was oder wen es zu verteidigen gilt. Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin gründeten noch im selben Jahr das deutsch-ukrainische Kunstmagazin Solomiya, mit dem sie aus ihrer Perspektive als junge Menschen und Fotografen sich und das Fortbestehen des künstlerischen Arbeitens verteidigen. Das Magazin ermöglicht ihnen mit dem Ausdruck des eigenen Blickwinkels und durch die eigene Stimme einen Beitrag zum Widerstand zu leisten. Allem voran geht es darum, unabhängigen Stimmen gegenüber der Kriegsberichterstattung in den Nachrichten Raum zu geben, um aktiv Propaganda und Parolen zu begegnen.


Die Fotoserie 32 Young People wurde erstmals in diesem Magazin veröffentlicht, begleitet von Beiträgen weiterer ukrainischer Künstler:innen, den Kriegstagebüchern zweier Butscha-Überlebender und der Vorstellung von selbst gegründeten Hilfsorganisationen in der Ukraine auf den sogenannten “Yellow Pages”, die als eine Art Nachschlagewerk und Unterstützung im alltäglichen Leben in der Ukraine konzipiert sind, das trotz des Krieges weitergeht. Kazarin und Wells erarbeiteten gemeinsam die Inhalte von Solomiya #1 im April und Mai 2022 in den Cafés eines Kyjiws, das in den ersten Wochen des Krieges menschenverlassen war, doch das sich nach der Befreiung des Nordens der Stadt nach und nach ökonomisch wieder stabilisierte. Viele der Orte, die Kazarin und Wells fotografisch ins Bild gefasst haben, fanden sie im Durchqueren der Stadt. Die jungen Menschen trafen sie zunächst zufällig auf diesen Wegen und luden dann Freunde gezielt zu Fotoshootings ein. Was bedeutet es, im Krieg zu sein? Was bedeutet es, jetzt als junger Mensch in der Ukraine zu leben? Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin stellen sich diese Fragen in ihren eindringlichen Bildern und Texten. Es sind Inhalte, die einer durch den Krieg hervorgebrachten existenziellen Leere entgegenzuwirken suchen, indem sie die Freiheit, die sie und Gleichgesinnte sich trotz dessen bewahrt haben, zeigen. Die Herstellung des ersten Magazins erfolgte nach Wells’ Aufenthalt in Kyjiw, dann in Berlin, gestaltet durch das Kollektiv Scrollan, gefördert durch die Akademie der Künste Berlin und publiziert im Verlag Shift Books. Solomiya wurde von Wells und Kazarin bewusst als gedrucktes Magazin geplant: Als ein physisches Objekt, das über die Wertigkeit des Papiers zu den in ihm gebündelten Werten führt; das etwa in einer Buchhandlung in Kyjiw erworben werden kann und das in Situationen unfreiwilliger Abgeschiedenheit in den Händen liegt und Perspektiven eröffnet; das schließlich gesammelt werden kann und an die spezifischen Zeiten des Krieges erinnert.
Durch die Kunst das Menschsein bewahren
“Im Krieg geht es um Zerstörung: die Zerstörung von Leben, Gebieten, Gebäuden, Natur, um die Zerstörung von ‘zu Hause’. Krieg ist anders als alles, was wir uns davon haben vorstellen können. Aber es gibt Leben in Kyjiw, und wir möchten zeigen, dass und wie dieses Leben weitergeht”, sagt Sebastian Wells und verweist auf Vsevolod Kazarin, der das zum Alltag gewordene Kriegsgeschehen kontinuierlich durchlebt und für den es schwer bis kaum möglich ist, aus Kyjiw auszureisen – etwa zur Preisverleihung nach Osnabrück oder zum Podiumsgespräch nach Hamburg, um mit seinem Kollegen auf der Indiecon-Messe für unabhängiges Publizieren über das Magazin zu sprechen; beides war nur mittels der Zuschaltung Kazarins realisierbar. “Wir sind Individuen, die etwas Konkretes tun. Sinn und Bedeutung in einer Situation wie dieser zu schaffen, in der alles unwirklich und unsinnig zu sein scheint, ist für mich essenziell. Kunst im Krieg umzusetzen und dadurch vom Kriegsgeschehen zu erzählen ermöglicht mir eine Kommunikation auf symbolischer, auf emotionaler Ebene” sagt Vsevolod Kazarin. Sebastian Wells ergänzt: “Es ist für uns wichtig, die Arbeit von Künstler:innen sichtbar zu machen, die unter den unvorstellbarsten Bedingungen und Gefahren von Krieg weitermachen, etwa Künstler:innenresidenzen in Bunkern absolvieren.”
Nach nunmehr über einem Jahr Krieg hat sich die Lage verschärft und mit ihr die Dringlichkeit, darüber zu reflektieren. Die beiden Fotografen haben ihr Redaktionsteam durch die Künstler:innen Ivanna Kozachenko und Andrii Ushytskyi erweitert und zeigen in der zweiten Ausgabe ihres Magazins Porträts von Menschen aus besetzten Gebieten, geleitet von den Fragen: Wie geht man mit der Situation um, dass Städte und Dörfer, in denen man gelebt hat, nicht mehr zugänglich sind oder über einen längeren unbestimmten Zeitverlauf sein werden? Was bewegt diese davon betroffenen Menschen, was macht es mit ihnen?
Sebastian Wells’ und Vsevolod Kazarins Bilder und Texte sowie die Beiträge der von ihnen eingeladenen Künstler:innen sind stark, eindringlich, beklemmend, seelennah. “No hands to hold my heart” sagt eine Zeichnung von Alevtina Kakhidze auf dem Cover von Solomiya #2, gefolgt von einer Fotografie von Daniil Russov, der die offene Wunde eines verletzten Beins in einer Militärkrankenstation in Saporischschja fotografisch festgehalten hat. Vsevolod Kazarin resümiert in seiner Kolumne “Russians Stole My Hot Water or The Last Day of the Year” das erste Kriegsjahr. Die Bildstrecke “War knocked on My Door Again” von Lesha Berezovskij zeigt die zerstörte Ukraine, die der Künstler auf Fahrten quer durch das Land festgehalten hat. Sebastian Wells denkt über den Begriff und das Bild des Heroentums nach.
Für ihre Arbeit haben Wells und Kazarin im Frühjahr dieses Jahres den Deutschen Friedenspreis für Fotografie durch den Felix Schoeller Photo Award 2023 gemeinsam mit der Stadt Osnabrück im Museumsquartier Osnabrück verliehen bekommen. Doch nicht allein diese Würdigung verdeutlicht die Wichtigkeit ihres Handelns: Dass Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin mit ihrem Team an diesem Magazin weiterarbeiten können, ist für sie und für die Freiheit der Kunst von Bedeutung. Eine dritte Ausgabe ist in Arbeit. Wenn die finanzielle Unterstützung gegeben ist, kann Solomiya #3 voraussichtlich im Winter erscheinen.
Die Ausstellung “Deutscher Friedenspreis für Fotografie” wird bis zum 5. November im Willy-Brandt-Haus in Berlin gezeigt.