Künstler:innenkolonie auf Zeit
Zu Besuch im Mecklenburgischen Künstlerhaus Schloss Plüschow.
Es war einige Jahre vor der Wende, als der Künstler Udo Rathke das Gutshaus Schloss Plüschow im gleichnamigen Ort in Mecklenburg entdeckte und bald darauf dort zu leben und zu arbeiten begann. Miro Zahra, die wie Rathke in den 1980er-Jahren an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studierte, erfuhr von diesem Gutshaus und auch, dass dort eine funktionierende Lithografie-Presse stand – inmitten der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur ein Werkzeug für Kunstdrucke, sondern auch, um etwa systemkritische Texte zu reproduzieren. Zusammen mit weiteren Berliner Kommiliton:innen fuhr Zahra mit dem Zug nach Plüschow, begab sich auf den Fußweg durch den Wald zum Schloss – und blieb.



Erste Künstlerateliers entstanden nun nach und nach in dem Gebäude, das 1763 durch den Hamburger Kaufmann Phillip Heinrich von Stenglin erbaut worden war und das dann über ein Jahrhundert in den Besitz der großherzoglichen Familie des mecklenburgischen Erbprinzen Friedrich Ludwig überging. Wie so viele Herrenhäuser wurde auch dieses Haus nach 1945 – nach der als Bodenreform bezeichneten Enteignung von Grundbesitzern in der sowjetischen Besatzungszone – für andere Funktionen genutzt (etwa als Unterkunftsstätte oder zu Zwecken des alltäglichen und kommunalen Bedarfs), und mit ihnen unterlag auch Schloss Plüschow in seiner Substanz sukzessiven Zerstörungsprozessen.
Die Entscheidung, von Ost-Berlin aufs mecklenburgische Land überzusiedeln, bedeutete für Udo Rathke und Miro Zahra und weitere befreundete Künstler:innen in der Zeit der DDR einen Schritt in die Freiheit. 1988 richteten Rathke und Zahra mit Nordwest die erste Ausstellung auf Schloss Plüschow aus. Es sollte ein Auftakt sein für die Gründung eines Künstlerhauses, das seit 1990 die einzig freie Institution für Künstlerförderung in Mecklenburg-Vorpommern darstellt.
Mit der Vereinsgründung des Förderkreises Schloss Plüschow im deutsch-deutschen Wiedervereinigungsjahr nahm auch der Sanierungsprozess des Hauses seinen Anfang, aber von Beginn an war das Künstlerhaus “ein weltoffener Ort zum Arbeiten mit dem Ziel, Arbeitsräume für Künstler:innen zu schaffen”, wie Miro Zahra berichtet. So wurden gleichzeitig die Bausubstanz des Gutshauses erhalten oder wiederhergestellt sowie einfach ausgestattete Atelierräume zum temporären Einmieten angeboten und Residenzstipendien für Künstler:innen aus der ganzen Welt ausgeschrieben.
“Für uns ist es von Anfang an wichtig gewesen, alles offen zu halten: das Haus mit seinen fünf großen Wohnateliers und der Ausstellungsfläche im Erdgeschoss, aber auch die Möglichkeit, einen Ort für Gespräche der hier im Haus arbeitenden Künstler:innen untereinander sowie mit den Menschen dieser Region zu schaffen. Auch international sind wir von Beginn an mit weiteren Künstlerhäusern vernetzt, bieten Austauschprogramme in Form von Reisestipendien an. Seit einigen Jahren richten wir sogar den Nachwuchskunstpreis für Bildende Kunst in Mecklenburg-Vorpommern aus. Kunst bietet eine Möglichkeit zur Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Kultur. Wir haben uns deshalb der zeitgenössischen Bildenden Kunst verschrieben, und da gibt es keine Kompromisse. Wir möchten Raum zum Denken geben”, erzählt die Leiterin des Künstlerhauses, Miro Zahra. Jährlich werden seit der Gründungszeit des Künstlerhauses so bis zu fünf Aufenthaltsstipendien vergeben, die in der stillen Winterzeit zwischen Oktober und Dezember auf Schloss Plüschow verbracht werden können. Alle zwei Jahre im Sommer findet eine Ausstellung statt, die dann die Arbeiten der Künstler:innen zweier Stipendienjahrgänge vorstellt.
Deine Spuren sind der Weg – Kunst als Prozess lautet der Titel jener Präsentation, die zurzeit Werke der Stipendiatinnen der Jahre 2021 und 2022 vereint. In diesem Sommer sind Arbeiten von Karina Kueffner, Sasha Koura, Javkhlan Ariunbold, Lucrezia Zanardi, Taeeun Kim, Hee Seo, Julia Pietschmann, Friederike Haug, Lucila Pacheco Dehne und Cecilia Cissi Hultman zu sehen, die im Rahmen der Ausstellungseröffnung Anlass für Gespräche mit den Künstlerinnen boten. In diesen Gesprächen ging ich der Frage nach, wie die Künstler:innen die drei Monate in dem Gutshaus und der ländlichen Region erlebten und welche Erfahrungswerte sich dadurch für sie und für ihre Arbeit zwischen Stadt und Land ergaben.
Großzügige Ateliers, weitläufige Natur
Die Landschaft ist weitläufig; der Weg zum Künstlerhaus führt mit dem Auto durch Felder über verwinkelte Abzweigungen auf die Allee zum Gutshaus – oder aber vom eingleisigen Bahnhof Plüschow aus zu Fuß durch einen verwunschenen Wald mit mächtigen und uralten Bäumen über eine Brücke zum Schloss, von wo aus man auch schon bald die rückseitig ans Gebäude anschließende Veranda erblickt.



Dass sich Schloss Plüschow in einem repräsentativen und vor allem nutzbaren Zustand befindet, ist dem Engagement von Udo Rathke und Miro Zahra zu verdanken. “Viel ist in diesem Gutshaus schon passiert, es hat eine enorme Geschichte”, sagt Friederike Haug (1987 geboren in Dieburg). “Deshalb stelle ich meine Arbeiten bewusst in jenen Räumlichkeiten im Erdgeschoss aus, die von dieser Geschichte erzählen. Das Haus ist ein soziales Gebilde: Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten hier Geflohene, es war eine Poststation, eine Kneipe – eine Frau lebte gar bis vor wenigen Jahren, also parallel zum Aufbau des Künstlerhauses, noch genau in diesen Räumen, wo jetzt die permanent gezeigte Ausstellung zur Historie von Schloss Plüschow zu sehen ist.” Die in Düsseldorf lebende Künstlerin sitzt direkt neben dem historischen Ziffernblatt der ehemaligen Schlossuhr, während wir miteinander sprechen. Sie sagt: “Meine Holzschnitte und Soundarbeiten setze ich in einen Dialog zu Objekten wie diesen.”
An den historischen Ausstellungsraum, in dem zum Beispiel eine der noch erhaltenen Stofftapeten aus der Zeit des Friedrich Ludwigs und seiner Gemahlin Helena zu sehen ist, schließt sich die Ausstellungsfläche für die zeitgenössische Kunst an. Doch erschließt sich dieses Mal die Kunst der Stipendiatinnen auch über das beeindruckende Treppenhaus mit Rokokostuck an den Decken, hinauf bis unters Dach in eines der Ateliers. Die Wohnateliers sind einfach eingerichtet und großzügig geschnitten. Sie liegen größtenteils in der repräsentativen mittleren Etage des Hauses. Je zwei sind durch ein gemeinsames Badezimmer miteinander verbunden, aber jeweils mit einer eigenen Küche ausgestattet.
“Derart viel Platz zum Arbeiten zu haben hat mich total ermutigt, das Großformat in meinen Kohlezeichnungen anzugehen – ein echter Quantensprung für meine Arbeit”, erzählt die in Berlin lebende Julia Pietschmann(1987 geboren in Neubrandenburg). “Mittlerweile habe ich ein größeres Atelier in Berlin gefunden, was ja bekanntlich nicht sehr leicht ist. Den Entschluss, großformatig zu arbeiten, habe ich auf Schloss Plüschow gefasst. Viel war ich auch in der umherliegenden Landschaft mit dem Auto unterwegs, am See, an der Ostsee, habe das Gesehene in meine Zeichnungen, die sich mit dem Sujet Landschaft befassen, einfließen lassen.”
Für die 1988 in Seoul geborene Hee Seo, die das Stipendium zwischen einem Studienortswechsel von Braunschweig nach Berlin erhielt, führten die Größe und Freizügigkeit der Ateliers auch zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Raum: “Ich habe sehr viel über Raum als solchen, über das Temporäre nachgedacht. Hier erweiterte ich meine Arbeitsweise vom Objekt zum Raum, zur Installation. Auch war der Naturraum für mich entscheidend. In Korea, wo ich geboren bin, war ich ein Stadtmensch. Die Ruhe hier auf dem Land habe ich sehr genossen, vor allem, um unmittelbar und konzentriert Ideen umzusetzen, um tief zu denken.” Pietschmann stimmt ihr zu: “Auch ich mag die Ruhe, diese Konzentration in der Abgeschiedenheit. Orte oder Residenzen wie diese suche ich deshalb gezielt.”
Die in Hannover lebende Lucila Pacheco Dehne(1994 geboren in Berlin) ergänzt: “Das nahe gelegene Meer zu erleben oder Felder, wo Leben entsteht und wächst – das sind wirkliche Vorteile für meine Skulpturen und Videoinstallationen. Sehr wertvoll war für mich, dass dieses Stipendium ermöglicht, Neues ausprobieren. Es gibt Raum zum Forschen. Das sind die wertvollsten Momente, die man als Künstler*in hat.”



Formen des Miteinanders
In meinen Gesprächen mit den Künstlerinnen wird zunehmend deutlich, dass es nicht nur die Erfahrung des Atelierraumes zum individuellen Arbeiten ist, die sie schätzen, sondern auch den gemeinschaftlich erfahrbaren wie auch geschaffenen Raum. Denn dadurch, dass pro Jahr nur wenige Stipendien vergeben werden, sind die Gruppen klein, und so ergeben sich leichter Möglichkeiten, miteinander in die Auseinandersetzung über die jeweilige künstlerische Arbeit zu gehen.
“Sasha, Taeeun, Javkhlan, Karina und ich haben das Residenzstipendium während der Pandemie absolviert”, erzählt Lucrezia Zanardi (1994 geboren in Bologna). “Seit Sommer 2020 beschäftige ich mich in meiner künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit mit dem Edith-Stein-Archiv in Köln. Während der Pandemie und dem Lockdown war es für mich – wie für viele andere – sehr schwer, im Archiv oder überhaupt in öffentlichen Räumen arbeiten zu können. Dieses Residenzstipendium bot mir zu dieser Zeit deshalb die Möglichkeit, mit den von mir zusammengetragenen Materialien in einem wirklichen Freiraum arbeiten zu können, zu forschen, Ideen weiterzuentwickeln, vor allem auch mit den anderen Stipendiatinnen in Austausch zu gehen.”
Sasha Koura (1970 geboren in London) bekräftigt: “Ich habe es sehr geschätzt, Teil dieser Künstlerinnenkolonie auf Zeit zu sein. Aus dem Austausch untereinander habe ich viel gelernt. Doch habe ich an diesem Ort auch Widersprüche gespürt: Alles geht langsam und schnell, alles ist temporär und permanent. Genau das hat mich in der Umsetzung meiner Projektidee bestärkt, mit der ich nach Plüschow gekommen war. Ich verwende Materialien, die Teil eines Kreislaufes sind, hauptsächlich Papier und Bücher. Die hier entstandene Edition …of silence and slow time (2021–2023) soll durch verschiedene Bildkarten die sie Betrachtenden inspirieren, selbst eine ähnliche Praxis des nachhaltigen Verwertens zu entwickeln.”
An einem der Fenster im Ausstellungsbereich ist die Schriftbildarbeit die klarheit (2023) von Cecilia Cissi Hultman (1985 geboren in Sundsvall) in Relation zur Architektur angebracht. Erst durch den Lichteinfall der frühabendlichen Sonne scheint die spiegelverkehrte Schrift auf dem Fensterbrett von Schloss Plüschow lesbar auf. Fragil im Entstehen, doch prägnant in der Ausformulierung vergegenwärtigt sie sinnbildlich, was auch aus dem Austausch der Residenzkünstlerinnen hervorgegangen und entstanden ist.

Eine andere Verbindlichkeit
Die Gespräche führen wir auch nach der Ausstellungseröffnung fort. Etwa darüber, welche Spannungsfelder entstehen, wenn man als Stadtmensch in Plüschow erfährt, dass nur einmal in der Stunde ein Zug in den nächsten Ort fährt, wo man Lebensmittel einkaufen kann. Dass man sich im Alltag anders, ja verbindlicher organisieren muss. “Das hat viel mit einer Haltung zu tun”, bemerkt Lucila Pacheco Dehne.
Für Udo Rathke, den gebürtigen Mecklenburger, und Miro Zahra, die aus Prag stammt, aber ihre Kindheit auf dem Land in Böhmen verbrachte, stellte sich als Künstlerin und Künstler, die seit nunmehr Jahrzehnten grenzüberschreitend agieren, nicht die dichotomische Frage, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben wollten. Sie beabsichtigten – und haben – einen weltoffenen Ort für die Kunst geschaffen.
Wir sitzen bis spät in den Abend im weitläufigen Garten des Künstlerhauses. In den Gesprächspausen bemerke ich, wie still es hier im Freien ist, und man versteht intuitiv, was sich Miro Zahra und Udo Rathke unter diesem Raum zum Denken vorstellen. Es verwundert daher auch keineswegs, dass das Mecklenburgische Künstlerhaus Schloss Plüschow kürzlich für den ADKV-ART COLOGNE Preis für Kunstvereine nominiert worden ist.
Deine Spuren sind der Weg – Kunst als Prozess, Stipendiatinnen der Jahre 2021 und 2022, Mecklenburgisches Künstlerhaus Schloss Plüschow, Plüschow, 9. Juli bis 20. August 2023.