Taij Taichar, Ein buddhistischer Mönch im Kloster Gandan

Jenseits touristischer Abziehbilder

Das Stadthaus Ulm hat sich als Ort herausragender Fotoausstellungen längst etabliert. Im Fokus derzeit, bis 1. November: die Mongolei.

Bilder aus der Mongolei finden äußerst selten den Weg in unsere Medien. Und selbst wenn etwa, wie Anfang September, der Papst zu Besuch kommt: Was gibt es da schon zu sehen? Ein paar Szenen aus dem Zentrum von Ulanbaatar; Menschen; vorzugsweise zu Pferd oder in bunten Kostümen; eine Jurte muss auf jeden Fall mit ins Bild. Zwei, drei Klischeebilder genügen, um begreiflich zu machen, um welches Land es sich handelt.

Wer wissen will, wie es in der Mongolei jenseits der touristischen Abziehbilder aussieht, was die Menschen bewegt, welche Probleme es gibt, der erhält derzeit im Stadthaus Ulm exzellente Einblicke. Arbeiten von zehn Fotografinnen und Fotografen sind dort zu sehen, fast alle Einheimische: studierte Fotograf/innen oder Quereinsteiger, die ihre Arbeiten auf verschiedenen Wegen verbreiten, von einer Fotoagentur bis hin zum Internet. Was sie verbindet, ist, dass sie einen liebevollen, kritischen Blick auf ihr Land werfen.

Der fotografische Blick ist nicht auf Sehenswürdigkeiten oder spektakuläre Ereignisse angewiesen. Es genügt ein kleiner Junge, der im Bus unter dem Arm seines Großvaters hindurch linst. Erkhbayar Tsengels großformatig abgezogene Farbfotos sind sorgfältig komponiert und nicht auf ein Thema festzulegen. Vor einer hügeligen Landschaft hält ein Mönch eine Leiter. Sie führt nirgendwo hin. Titel: Stairway to Heaven.

Geprägt von 65 Jahren Kommunismus

Injinaash Bor hat in einer Serie von Schwarzweißfotos Teenager in den Blick genommen: in der Schule, beim Abschlussball, mit wildem Irokesenschnitt in einem Rockkonzert, mit dem Motorrad auf dem Weg aufs Land. Ausbruchsversuche aus einer Realität, die von 65 Jahren Kommunismus geprägt ist, zwischen Russland und China, isoliert von der westlichen Welt. Gern spielt Bor mit Reflexionen im Spiegel. Schauspielerinnen schminken sich. Ein älteres Paar tanzt. Ein Farbfoto sticht heraus: Aus dem Fenster eines Luxusrestaurants in der obersten Etage eines Hochhauses öffnet sich der Blick auf die Hauptstadt Ulanbaatar: Die Welt der Elite, abgehoben von den Problemen des grauen Alltags.

Die Mehrheit der Menschen in der Mongolei bekennt sich zum Buddhismus. Doch während es 1924, zu Beginn der Volksrepublik, noch 100.000 Mönche gab, sind es heute nur noch ein paar hundert. Taij Taichar zeigt sie im Alltag der heutigen Welt. Auch die Tradition der Pferderennen gibt es noch, etwa beim Nadaam, dem Nationalfest im Juli, oder bei klirrender Kälte im Winter. Davaanyam Delgerjargal hat sich das angesehen. Die Zuschauer fahren mit dem Auto nebenher, denn die Rennen gehen über Distanzen bis zu 30 Kilometer. Die Reiter sind Kinder zwischen fünf und 13 Jahren. “Während des Rennens fallen viele Kinder vom Pferd”, sagt der Fotograf. Aber: “Wenn ich fotografiere, ergreife ich keine Partei. Ich versuche nur, die wahre Realität des Geschehens einzufangen.”

Schärfer reagiert Agnuush, die auch als erfolgreiche Bloggerin, Vloggerin und Streetart-Künstlerin auftritt. Sie hat in einer Unterführung überlebensgroße Porträts verurteilter Cannabis-Konsumenten aus dem Gefängnis plakatiert und dazu deren handgeschriebene Selbstaussagen. Obwohl Hanf in der Mongolei eine lange Tradition hat, drohen den Rauchern drakonische Strafen. “Ich bin die Art von Person, die sie in ihrer Gesellschaft nicht wollen, die sie hassen”, schreibt eine. “Gras sollte niemals als Droge bezeichnet werden. Für medizinische Zwecke verwendet, kann die Pflanze viele Krebsarten und allergische Erkrankungen heilen.”

Romantisch verklärt sehen Manche das Leben in der Jurte. Esunge Erdenebat zeichnet ein anderes Bild. Es gibt eine zunehmende Landflucht. Die Neuankömmlinge in der Stadt leben in den Ger-Distrikten. Ger ist das mongolische Wort für Jurte: eine Art Slums ohne Strom und fließend Wasser. Junge Mädchen trainieren, um – Akrobatinnen oder Turnerinnen – der Armut zu entkommen.

Problem Kohle

Ein Hauptgrund für die Landflucht sind Umweltprobleme. Konzerne, die Kohle fördern, pumpen das Grundwasser ab, weil die Chinesen als Hauptabnehmer für gewaschene Kohle mehr zahlen, stellt Bat-Orgil Battulga, studierter Ökonom, fest: Das Wasser für die Herden wird knapp. Seine beeindruckende Bildfolge versteht sich zugleich als Hommage an das Wasser: den Chandmana-Schatz, wie die Nomaden sagen, aus der Tiefe, der das Leben erhält.

Mit Rohkohle haben auch die Menschen in Ulanbaatar bis vor kurzem ihre Wohnungen beheizt. Wegen der verheerenden Luftqualität hat die Regierung dies vor einigen Jahren verboten. Ein Al-Jazeera-Film, At the Coalface, an dem drei der an der Ausstellung beteiligten Fotograf/innen mitgewirkt haben, dokumentiert die letzten Tage eines kleinen Trupps von Bergleuten, die auf eigene Faust die Kohle zutage gefördert und direkt an die Hauptstadtbewohner verkauft haben. Von Munkhgerel Purevkhuu, die einmal Modedesign studiert hat und an dem Film als Produktionsassistentin und Tontechnikerin beteiligt war, ist dazu eine Fotoserie ausgestellt.

Kohle thematisiert auch Nathalie Daoust, doch auf ungewöhnliche, ganz eigenständige Weise. Sie hat Porträts der Nomaden mit Kohlepulver auf Jurtenstoff gedruckt. Sie wirken dadurch äußerst greifbar, so als müsste man nur einen schwarzweißen Schleier zur Seite schieben, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zugleich wird aber paradoxerweise die räumliche, und scheinbar auch eine zeitliche Distanz spürbar, so als handle es sich um Bilder aus der Vergangenheit. Daoust hat die Ausstellung angeregt. Sie war vor sechs Jahren bereits an einer Stadthaus-Ausstellung zu Nordkorea beteiligt: ein ähnlich abgelegenes, unbekanntes Land.

Fotografie im Stadthaus

Mit Ausstellungen wie diesen hat sich das Stadthaus im Lauf der Zeit zu einer der ersten Adressen für Fotoausstellungen entwickelt. Nicht so groß wie die Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, aber fokussierter. Und zwar weniger auf große Namen, wie etwa C/O in Berlin, als vielmehr thematisch. Obwohl auch in Ulm schon Berühmtheiten wie Jim Rakete, Abbas, Nick Brandt, Timm Rautert, Herlinde Koelbl, Douglas Kirkland oder Barbara Klemm ausgestellt waren. Diese Entwicklung war dem Stadthaus keineswegs in die Wiege gelegt. Dreißig Jahre alt ist der anfangs heftig umstrittene Bau von Richard Meier. Das Programm umfasst Konzerte, Tanzveranstaltungen, Vorträge und Ausstellungen, zu Beginn ein bunt gemischtes Programm. Erst seit rund 15 Jahren spielt hier Fotografie eine Hauptrolle.

Dazu dürfte beigetragen haben, dass Karla Nieraad, die von Anfang im Stadthaus arbeitet und das Haus seit 2005 leitet, sich für Fotografie interessiert und auch selbst Ausstellungen kuratiert. Aber auch das lokale Umfeld: Seit 2007 gibt es die Kunsthalle Weishaupt, seit 2011 das HfG-Archiv der früheren Ulmer Hochschule für Gestaltung. Deren Themen waren anfangs auch im Stadthaus vertreten, das sich daraufhin neu positionieren musste. Dazu trägt ein wachsendes Netzwerk aus freien Kurator/innen und internationalen Kooperationspartnern bei. Mit Synergieeffekten: Parallel zur von Okwui Enwezor kuratierten Eröffnungsausstellung der Neu-Ulmer Walther Collection über afrikanische Porträtfotografie fand im Stadthaus anlässlich der Fußball-WM 2010 eine große Ausstellung zur südafrikanischen Fotografie statt. Eine große Ausstellung zur westafrikanischen Fotokunst im Stadthaus wiederum, kuratiert von der Stuttgarter Germanistin Bärbel Küster, hat die Walther Collection 2014 unterstützt. Daniela Yvonne Baumann, von 2015 bis 2019 Direktorin der Neu-Ulmer Sammlung, gehört heute zu den aktivsten Kuratorinnen im Stadthaus. Die Walther Collection zeigt derzeit indes die südafrikanischen Fotografen Santu Mofokeng und David Goldblatt.

Ein anderer Blick auf die Welt

Die globale Ausrichtung gehört zu den besonderen Merkmalen des Stadthaus-Programms. In den letzten Jahren gab es unter anderem Ausstellungen zur Sahelzone, zum Lager Guantanamo Bay oder zu indonesischen Hausmädchen in Honkong. Aber auch Politiker von Willy Brandt bis Angela Merkel waren bereits Thema, ebenso naturwissenschaftliche Gebiete von Mikroorganismen bis hin zum Weltall. “Die Welt erklären”, lautet die Überschrift zum Konzept auf der Homepage, doch der Satz geht dann so weiter: “sie uns vielleicht nicht – die Fotos –, doch zumindest einzelne Aspekte”. Das alles ist durchaus auch pädagogisch und politisch gemeint: Demokratie auslösen: Gerechtigkeit! lautet der Titel eines Foto-Wettbewerbs für junge Menschen im Alter von 10 bis 25 Jahren, dessen Ergebnisse aktuell ebenfalls im Stadthaus zu sehen sind.

Wie wichtig es sein kann, einen anderen Blick auf die Welt zu werfen, Bilder zu zeigen, die sonst nicht in den Medien erscheinen, zeigt das Titelmotiv der vorangegangenen Ausstellung von Johanna-Maria Fritz. Ihr Thema war Zirkuskultur in islamischen Ländern. Das Bild zeigt einen Clown auf Stelzen mit Jonglierkeulen in Gaza, der einem Jeep mit Hamas-Kombattanten nachsieht. Nein, die Bevölkerungsmehrheit im Gazastreifen, die jetzt wieder die Folgen der israelischen Racheakte ausbaden muss, besteht nicht aus Terroristen. Sie sehnt sich nach Normalität, Frieden und ein bisschen Freude im grauen Alltag. Das macht das Foto auf einen Blick erkennbar.


Das Stadthaus Ulm zeigt die Fotografie-Ausstellung Mongolei. Zeitgenössische Fotografien noch bis zum 1. November.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs Demokratie auslösen sind ebenfalls bis 1. November im Stadthaus Ulm zu sehen.
Die Ausstellung Seite an Seite in der Walther Collection läuft bis 19. November.