Jon Hendricks und die Guerilla Art Action Group.
Drei Männer und drei Frauen tanzen durch den Ausstellungsraum, nach einer Choreographie von Yvonne Rainer: Nackt bis auf die amerikanische Flagge, die sie wie einen Latz um den Hals gebunden haben. Und das in einer Baptistenkirche. Genauer gesagt in den Galerieräumen im Souterrain der Judson Memorial Church im Greenwich Village, einem der radikalsten Orte der Kunst im New York der 1960er-Jahre. Für die People’s Flag Show im November 1970 hatte Jon Hendricks, der die Galerie seit fünf Jahren leitete, mit Faith Ringgold und Jean Toche Künstler/innen aufgerufen, ihre eigene Version der amerikanischen Flagge zu gestalten. Denn, wie Ringgold in ihrem Aufruf schreibt, “eine Flagge, die nicht den Menschen gehört, sollte verbrannt und vergessen werden”.



In der Ausstellung über die Guerilla Art Action Group (GAAG) im Kunstverein Neuhausen ist die Tanzszene in einem Schwarzweißfilm zu sehen. Der Kunstverein, außerhalb der Stadtgrenzen Stuttgarts, befindet sich ebenfalls in einer Kirche, genauer gesagt in einer ehemaligen Jesuitenkirche. Neuhausen war eine katholische Enklave im protestantischen Württemberg. Hendricks ist einige Tage vor der Eröffnung angereist. 1969 hatte er mit Poppy Johnson und Toche die GAAG gegründet, als besonders radikale Gruppe innerhalb der größeren Art Workers Coalition. Zur Eröffnung der People’s Flag Show verbrannten Hendricks und Toche einen mit Knochen und Innereien gefüllten Sack aus amerikanischen Flaggen, aus Protest gegen die Napalm-Brandbomben im Vietnamkrieg. Nach vier Tagen wurden die drei Initiator/innen, die „Judson 3“, aus der Ausstellung heraus verhaftet und zu Geldstrafen von 100 Dollar pro Kopf verurteilt. Erst mehr als ein Jahrzehnt später gab ihnen der Oberste Gerichtshof indirekt recht.
Der Beginn einer politischen Aktionskunst
Die GAAG stand am Beginn einer radikalen politischen Aktionskunst. Hendricks winkt ab: “Es ist nie etwas völlig neu”, sagt er und verweist auf die Suprematisten. Tatsächlich war die GAAG am 31. Oktober 1969 erstmals in Erscheinung getreten, als Hendricks und Toche im Museum of Modern Art (MoMA) das Gemälde Weiß auf Weiß von Kasimir Malewitsch von der Wand nahmen, um dort ein Manifest anzubringen, in dem sie forderten, das Museum möge Werke im Wert von einer Million Dollar verkaufen und den Erlös an Arme verteilen. Die Aktion war sorgfältig vorbereitet. Museumspersonal, Zeugen und Journalisten sowie eine eidesstattliche Erklärung, das Gemälde werde nicht beschädigt, bewirkten schließlich, dass ihre Erklärung entgegengenommen und an die Museumsleitung übermittelt wurde.


Die Aktion folgt wie ein Echo auf eine andere, Anfang 1969, die zur Gründung der Art Workers Coalition (AWC) führte. Am 3. Januar desselben Jahres hatte der Bildhauer Takis (Panagiótis Vasilákis), im Vorjahr Documenta-Teilnehmer und Augenzeuge der Pariser Mairevolten, ebenfalls im MoMA seine eigene, kinetische Tele-Skulptur ausgesteckt und war damit in den Garten des Museums verschwunden. Wie die AWC richtete die GAAG ihren Protest vorwiegend an die Museen, nur dass die Aktionen der GAAG noch etwas radikaler waren. Am 19. November 1969, nur drei Wochen nach ihrem ersten Auftritt, verschütteten Hendricks, Poppy Johnson, Toche und Silviana (Sylvia Goldsmith) in der Lobby des MoMA eine rote Flüssigkeit, rissen sich schreiend einen Teil ihrer Kleider vom Leib und blieben wie tot am Boden liegen. In einem Flugblatt beschuldigten sie die Rockefellers und das Museum, Kunst nur zur Verschleierung ihrer “brutalen Mitwirkung an allen Bereichen der Kriegsmaschine” zu benutzen. Nelson A. Rockefeller, Gouverneur des Staats New York, saß im Kuratorium des MoMA. Vorangegangen war eine sorgfältige Recherche seiner Beteiligungen an Rüstungsunternehmen wie dem Napalm-Hersteller Dow Chemical. A Call for the Immediate Resignation of All the Rockefellers from the Board of Trustees of the Museum of Modern Art nannte die GAAG ihre Aktion.
Eine weitere Aktion am 3. Januar 1970 stellt der Kunstverein Neuhausen in den Mittelpunkt, weil Hendricks auch Mitglied des Artists‘ Poster Committee war, einer weiteren Subgruppe der AWC, die das Poster Q: And Babies? entworfen hatte. Acht Künstlerinnen und Künstler halten auf einem in Neuhausen wandgroß tapezierten Schwarzweißfoto dieses Poster in die Höhe: vor Pablo Picassos Gemälde Guernica, gemalt 1937 aus Protest gegen die deutschen Luftangriffe auf die baskische Stadt. Das Poster wiederum beruht auf einem Farbfoto des Massakers von My Lai, aufgenommen von Ronald L. Haeberle und veröffentlicht im Magazin Newsweek, das Leichen auf einem Feldweg zeigt. Darüber steht in roter Farbe oben: “Q: And babies?” und unten: “A: And babies”. Frage und Antwort aus einem Radiointerview mit einem Soldaten. Die GAAG hatte das MoMA um einen Beitrag zur Finanzierung der Plakatkampagne gebeten. “Nur über meine Leiche”, habe William S. Paley gesagt, Inhaber des Medienkonzerns CBS und wie Rockefeller im Kuratorium des MoMA, erzählt Hendricks schmunzelnd. Sie druckten das Plakat trotzdem, mit Unterstützung von Haeberle und der Druckerei, in einer Auflage von 50.000 Stück.
Künstler und Kriegsdienstverweigerer
Wie kam Hendricks, ein freundlicher, zurückhaltender alter Mann, der auch auf Bildern der damaligen Zeit nicht wie ein Krawallbruder aussieht, zu dieser Radikalität? “Ich war Kriegsdienstverweigerer”, erklärt er. 1964, als er von einem mehrjährigen Frankreich-Aufenthalt nach New York zurückkehrte, war Lyndon B. Johnson als Nachfolger des ermordeten John F. Kennedy an die Macht gekommen, und der Vietnamkrieg spitzte sich zu. Als Quaker fiel es Hendricks nicht schwer, seine Gewissensgründe glaubhaft zu machen. Doch er brauchte eine Zivildienststelle im Alternative Service. So kam er zur Judson Memorial Church. In der Souterrain-Galerie hatten um 1960 bereits Jim Dine, Claes Oldenburg und Tom Wesselman ausgestellt. Allan Kaprow hatte hier Happenings inszeniert. Dann schlief die Galerie wieder ein, doch die Kirche wurde zum Zentrum des postmodernen Tanzes, mit dem Judson Dance Theater um Yvonne Rainer und Meredith Monk, die hier zum ersten Mal auftrat.
1939 geboren, hatte Hendricks als Künstler angefangen. In Paris stand er Stanley William Hayter nahe, der ihn wiederum mit Joan Miró in Kontakt brachte, den er auf Mallorca besuchte. Sein acht Jahre älterer Bruder Geoffrey gehörte zum Umkreis der Fluxus-Bewegung. Dies war sein Background, als er in der Judson Memorial Church die Galerie wiederbelebte. Gleich 1965 lernte er dabei auch Yoko Ono kennen, deren Ausstellungen er bis heute kuratiert. Wusste er, 1959 in Paris, von Guy Debord und den Situationisten, die ja die französische 68er-Bewegung stark geprägt haben? “Erst später”, antwortet Hendricks. Hat nicht von Fluxus zur GAAG eine ähnliche Politisierung stattgefunden wie in Frankreich von den Situationisten zu den Studentenrevolten? “George Maciunas verstand seine Kunst von Anfang an als politisch”, wendet er ein.
Bürgerrechte für Frauen und Schwarze
Radikal war die GAAG nicht nur in ihren dem Straßentheater entlehnten Aktionsformen. Radikaler als die Art Workers Coalition war die Gruppe auch insofern, als sie die Forderungen der Womens Lib und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung ernst nahm. An den Aktionen waren mindestens ebenso viele Künstlerinnen wie Künstler beteiligt, auch schwarze Künstlerinnen wie Faith Ringgold, heute 93 und hoch geehrt, wenn auch nicht auf einer Ebene mit weißen, männlichen Künstlern. Von der Art Workers Coalition war sie bald enttäuscht und gründete ihre eigene Splittergruppe, die Women Students and Artists für Black Artists‘ Liberation (WSABAL). Susanne Jakob, die Leiterin des Kunstvereins Neuhausen, nimmt für sich in Anspruch, erstmals in Deutschland einige ihrer Arbeiten zu zeigen.
Die Solidarität mit den Anliegen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung dokumentiert die Ausstellung anhand mehrerer Exponate, die sich auf den Gefangenenaufstand 1971 im Attica State Prison beziehen, für dessen blutige Niederschlagung wiederum Nelson A. Rockefeller verantwortlich zeichnete. Selten trat der amerikanische Rassismus so deutlich zutage wie an diesem Ereignis. Die Mehrzahl der Insassen US-amerikanischer Gefängnisse waren und sind Schwarze, zum Teil unmittelbar in ehemaligen Sklavenhalter-Plantagen wie dem Angola State Prison, dem größten Hochsicherheitsgefängnis der USA im Staat Louisiana. Die Ausstellung zeigt unter anderem ein damals weit verbreitetes Plakat, das Ringgold für das Artists‘ Poster Committee angefertigt hat: eine rot-grüne Karte der USA mit dem Titel United States of Attica, auf dem alle ihr bekannten Aufstände von Sklaven, Ureinwohnern und Einwanderern sowie rassistische Übergriffe seit Ende des 17. Jahrhunderts verzeichnet sind.
So sehr die Aktionen der Guerilla Art Action Group die Emotionen ansprachen, vor allem zur damaligen Zeit, als diese Art Aktivismus noch neu war: Sie waren doch sorgfältig kalkuliert. Aufmerksamkeit zu erregen, war das Eine, sei es durch spektakuläre Aktionen oder durch die hohen Auflagen der Druckwerke. Dies war jedoch kein Selbstzweck, sondern zielte darauf, bestimmte Anliegen zu verbreiten: Etwa Rockefellers Beteiligungen an Rüstungsgeschäften publik zu machen, insbesondere angesichts seiner Funktion im Museum, vermeintlich ein Ort des Schönen, jenseits solch weniger schöner Geschäfte. Das Entscheidende war die Kontrastierung der Rhetorik, des schönen Scheins, mit den unschönen Tatsachen. Wirksam blieb diese Strategie gleichwohl nur begrenzt, denn selbst eine Plakat-Auflage von 50.000 Stück ist nichts im Vergleich zur Zahl der Wahlkampfplakate der Parteien und Politiker.
Die Grenzen des Aktionismus
Dies zeigt auch der Präsidentschaftswahlkampf 1972. Hendricks druckte einen Brief an Richard Nixon, gestaltet von einem Kupferstecher in schönster Kalligraphie: “Während Ihrer Präsidentschaft ist die Technologie des Schlachtens und Röstens verfeinert worden”, heißt es da, und falls jemand die Anspielung nicht gleich verstanden haben sollte, ist auch noch explizit von Vietnam die Rede. Der Brief wurde als Kunstwerk verkauft, um die Präsidentschaftskampagne des demokratischen Kandidaten George McGovern zu unterstützen. Ein Plakat weist auf eine Verkaufsveranstaltung von Kunstwerken in der Galerie Leo Castelli zum selben Zweck hin. Doch das Publikum für die Kunst war zu klein, um auf diese Weise Wirkung zu entfalten. Aus späterer Zeit gibt es in der Ausstellung noch zwei Plakate von 1984, beide gestaltet von Claes Oldenburg: gegen US-Interventionen in Mittelamerika und aus dem Präsidentschaftswahlkampf von Ronald Reagan. Vor eingeschaltetem Mikrophon, ohne sich dessen bewusst zu sein, flapste der US-Präsident: “We Begin Bombing in Five Minutes”. Eine Ungeheuerlichkeit angesichts der Gefahr eines atomaren Overkills. Die Aussage Reagans wurde zum Titel und Gegenstand des Posters.
Heute mag sich Manches geändert haben, doch die USA führen oder unterstützen munter weiter Kriege. Der militärisch-industrielle Komplex verzeichnet Rekordeinnahmen, wer daran mit verdient, muss hier offen bleiben. Am Rassismus der amerikanischen Gesellschaft und auch der anderen so genannten westlichen Länder hat sich wenig geändert, trotz Sprachregelungen und Antidiskriminierungsbeauftragten. Ist es nicht frustrierend, zu sehen, wie wenig sich trotz allen Engagements gebessert hat? Hendricks seufzt auf. “Wichtig ist es, Stellung zu beziehen”, meint er.
Die Ausstellung im Kunstverein Neuhausen läuft bis zum 19. November: The Guerilla Art Action Group – Revisited; im Februar ist eine große Ausstellung zum 91. Geburtstag von Yoko Ono in der Londoner Tate Gallery geplant, an der Jon Hendricks mitwirkt.