Auffahrt zur “Fattoria”, in der Christiane Löhr mit ihrem Partner Salvatore Mazza lebt.

Provinz oder Metropole?

Künstler:innen, die sich entschließen, aufs Land zu ziehen, droht berufliche Erfolglosigkeit, heißt es. Ist das tatsächlich so? Auch heute noch, trotz hoher Mobilität und schneller Kommunikation?
Die Überzeugung, dass es die Metropolen dieser Welt sind, in denen sich Künstler:innen dank der Möglichkeiten der Vermarktung und Vernetzung einen Namen machen können, ist immer noch weit verbreitet. Hingegen bietet die Provinz mit ihrer Abgeschiedenheit ausgezeichnete Voraussetzungen für Konzentration und Selbstfindung.
Provinz oder Metropole? on art Magazine hat Christiane Löhr besucht, um zu erfahren, wie sie über diese Frage denkt.

Restare in movimento

Christiane Löhr lebt in einem Weiler in der nördlichen Toskana.

Dass Christiane Löhr in Prato lebt, war meine feste Überzeugung, seit wir uns kennen. Prato, Großstadt im Nordwesten von Florenz, war früher eines der Zentren der italienischen Textilindustrie. Deren Reste werden heute von mehr als zwanzigtausend Exilchinesen, die hier nach Paris und Mailand die drittgrößte chinesische Enklave Europas bilden, in zahlreichen kleinen Betrieben weitergeführt. In einer solchen Stadt gibt es genügend stillgelegte Industriebrachen. Keine Frage also: Christianes Atelier wird uns allein durch die Zahl seiner Quadratmeter beeindrucken. Wir werden es in einem spannenden Quartier des Stadtzentrums finden. Und die monatliche Miete lässt jeden Künstler nördlich der Alpen vor Neid blass werden.

Das ist natürlich ein Irrtum.

Im Tal des Bisenzio

Wir müssen an diesem noch recht frischen Frühlingsmorgen raus aus der Stadt, die Strada statale führt nach Nordosten und windet sich durch ein Tal, das dem Lauf des Bisenzio folgt. Auch hier gibt es im Talgrund, entlang des Flussufers, zahlreiche gewerbliche Ruinen, die von der Größe der hier früher ansässigen Textilwirtschaft erzählen. Irgendwo, Kilometer hinter Vaiano, verlassen wir die Straße, es geht nun den Berg hinauf. Die Bebauung endet bereits nach wenigen Metern und die Piste, die diagonal den Hang hinaufführt, wird so eng, dass uns die Vorstellung von Gegenverkehr Schweiß auf die Stirn treibt. Irgendwann taucht vor uns am Hang eine kleine Kirche auf, die teilweise eingerüstet ist und offenbar renoviert wird. Direkt darüber kleben zwei Häuser am Hang: Hier lebt Christiane Löhr mit ihrem Partner Salvatore Mazza.

Wir werden mit selbstgebackenem Kuchen empfangen und während wir dazu heißen Kaffee schlürfen, erfahren wir, dass in der Küche früher Kastanien geröstet wurden. Ursprünglich beherbergte die Immobilie das zu dem Kirchlein gehörende Bauernhaus, mit dem auch ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb verbunden war. Das Wohnhaus ist verwinkelt und gemütlich, dann geht es hinüber ins Atelier, in dem früher wohl die Scheune untergebracht war. Es liegt auf der anderen Seite der Terrasse. Die öffnet sich zum Hang, man blickt über Olivenbäume und ein Wäldchen abwärts ins Tal hinunter, und wenn man den Blick wieder hebt, sieht man auf der Spitze einer Bergnadel in der Mitte des Tals die Ruine einer Festung. Die Sonne scheint, aber in den Ritzen der Steine sitzt die kühle Feuchtigkeit der letzten Regengüsse. Außerdem spürt man hier am Hang den Wind. Die frühere Scheune beherbergt zu ebener Erde Lager und Werkstatt, ins Atelier geht es in den ersten Stock. Dort hängt an der Wand großformatiges Papier, leer noch, aber bereit, eine der Ölkreide-Zeichnungen Christianes aufzunehmen. Durch das große Fenster erneut die Ruine der Festung. Der Raum birgt, so scheint es, die Potenziale, die nur echte Abgeschiedenheit bieten kann.

Maarweg, Köln

Auch wenn man spürt, wie viel Herzblut Christiane mit der früheren Fattoria verbindet, ist es kein Zufall, dass sie relativ schnell auf die Flughäfen in der Nähe zu sprechen kommt. “Bis zum Flughafen in Florenz sind es 45 Minuten”, erfahren wir und auch der Aeroporto di Bologna sei nicht sehr viel weiter entfernt. Wie sehr uns auch die ländliche Ruhe ihres Heimes beeindrucken mag, der Ort wäre nicht der, der er für sie ist, wenn sie ihn nicht hinter sich lassen könnte: möglichst schnell, möglichst unkompliziert, auch wenn es um die Überwindung großer Entfernungen geht. Noch am Tag unseres Besuches wird sie nach Sardinien abreisen, ihre Tätigkeit führt sie aber auch immer wieder in Länder wie Japan, die USA und natürlich auch nach Deutschland. Denn trotz der guten Verkehrsanbindung ihres italienischen Wohnortes gibt es in Deutschland noch ein zweites Standbein. Und das ist Köln.

Im Maarweg im Kölner Stadtteil Braunsfeld hat Christiane Löhr ein zweites Atelier, dass sie nutzt, wenn sie sich im Rheinland aufhält. Das muss sie relativ häufig, ist doch die Rheinschiene mit ihrer dichten Museumslandschaft, den Galerien, die hier vertreten sind, den zahlreichen Kunstvereinen und Off Spaces eine wichtige Drehscheibe des Kunstbetriebs. Hier ist auch ihr Kölner Galerist Werner Klein, im nahen Düsseldorf ist sie Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von hier lassen sich vor allem diejenigen ihrer Aktivitäten, die sich in Deutschland abspielen, besser steuern und vorbereiten als aus Italien. Zum Beispiel die Solo Show im Arp Museum in Rolandseck, die am 8. Oktober eröffnet wird und bereits jetzt ihre Schatten vorauswirft.

Fragen und Antworten

Weil ich Christiane schon länger kenne, erinnere ich, dass sie mir nur ungern direkte Antworten auf Fragen zu ihrer Kunst gibt. Als Fragender muss ich mich langsam zu Antworten vorarbeiten, die für mich nachvollziehbar sind. Ich muss verschiedene Möglichkeiten abtesten, auch nachhaken und versuchen, mich auf das, was ich bekomme, einzulassen. Anders als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen erschließt sie mit den Titeln ihrer Arbeiten keine zusätzlichen textlichen Dimensionen. Sie hält sich an das, was man ohnehin sieht, und liefert eher beschreibende Sachinformationen, die willkürlicher Interpretation wenig bis gar keinen Vorschub leisten. Ihre Arbeiten heißen “Kleine Dreierkuppel” oder “Kleines zylindrisches Quadrat” oder verzichten, wie alle ihrer Papierarbeiten, ganz auf einen Titel. So können sich ihre Arbeiten vor allem durch die Anschauung vermitteln.

Sein und Bewusstsein

Natürlich kann ich, nein, muss ich Christiane die Frage stellen, was die beiden Orte – der eine in Italien, der andere im Rheinland – für sie bedeuten. Ihre Antwort kommt schnell und bezieht sich nicht auf ihre persönlichen Empfindungen, sondern ohne mein Zutun sofort auf ihre Tätigkeit als Künstlerin: “Wenn du deine Arbeit versetzt, passiert etwas mit deiner Arbeit.” Natürlich würde ich gern mehr wissen, aber zunächst einmal ist klar, dass es zwischen beiden Orten einen Unterschied gibt und dieser Unterschied den Hintergrund ihrer Arbeit betrifft.

Die Arbeit ist das Gleichbleibende. Denn die führt sie mit sich, egal wohin die Reise geht. Das darf man natürlich nicht buchstäblich verstehen: Es gibt keinen Koffer und auch keine Reisetasche, die sie nur öffnen muss, um mit einer ihrer Skulpturen oder Zeichnungen weiterzumachen. Es ist die Arbeit im Kopf, die sich mit den Rahmenbedingungen verändert.

Das leuchtet mir ein. Köln, Düsseldorf, beides sind Städte mit einem sehr lebendigen Kunstbetrieb. Mit und ohne DC Open, Art Düsseldorf und Artcologne gibt es fast zu jeder Jahreszeit zahllose Möglichkeiten, Kunst zu erleben, Eröffnungen und Vernissagen zu besuchen und Menschen zu begegnen, die den Betrieb maßgeblich beeinflussen. Ich weiß, dass sich Christiane trotz ihrer eher zurückhaltenden Art in dieser Umgebung wie ein Fisch im Wasser bewegt, dass sie ein gefragter Gast ist, weil Kollegen, Kuratoren und Kunsthändler ihre Arbeit zu schätzen wissen. Für mich ist also klar, dass Köln (im Zusammenwirken mit Düsseldorf) das leistet, was eine Metropole Kunstschaffenden bieten muss: Möglichkeiten der Reproduktion, Möglichkeiten, das Netzwerk auszubauen und im Gespräch zu bleiben.

Und genauso klar scheint mir vor diesem Hintergrund zu sein, welche Funktion die Fattoria am Hang über dem Tal des Bisenzio hat: Hier sucht Christiane in der umliegenden Natur das Material für ihre Skulpturen, für die sie Flugsamen, Pflanzenstängel, Kletten, Baumblüten, Pferde- und Hundehaar benötigt. Und trotz Internet und Mobiltelefon bietet dieser Ort eine Rückzugsmöglichkeit, die Konzentration und Besinnung ermöglicht, die die Ruhe mit sich bringt, in der künstlerische Arbeit gedeihen kann.

Aber auch das ist ein Irrtum. Denn es ist genau umgekehrt. “In Köln bin ich sortierter, in Italien verschmelze ich mehr mit meiner Umgebung.” Denn in der Fattoria nordwestlich von Prato fallen Wohnen und Arbeiten zusammen, so dass das Leben dort einige Möglichkeiten mit sich bringt, sich ablenken zu lassen – sei es durch Arbeiten am Haus oder nur durch die Katze, die während unseres Besuchs über die Terrasse streunt.

In Köln hingegen bringt allein die Fahrt ins Atelier in geregelter Form die Möglichkeit mit sich, die Konzentration aufzubauen, die für die Arbeit nötig ist. Und die zahlreichen Termine, die hier wahrzunehmen sind, erzwingen Disziplin. Und ihr Material sucht sie nicht, sondern findet es. Dafür braucht es keine Streifzüge durch die ländliche Natur rund um das ehemalige Pfarrhaus. Material wuchert auch vor dem Kölner Atelier hinter den parkenden Autos an der sonnenbestrahlten Mauer: “Man sucht in der Ferne und hat es vor den Augen.”


Christiane Löhr
Symmetrien des Sachten

Arp Museum / Bahnhof Rolandseck
8. Oktober 2023 – 28. Januar 2024
https://arpmuseum.org/ausstellungen/wechselausstellungen/vorschau/christiane-loehr.html