Portrait der Künstlerin am Elbeufer. © Stephan Lucius Lemke

Provinz oder Metropole?

Künstler:innen, die sich entschließen, aufs Land zu ziehen, droht berufliche Erfolglosigkeit, heißt es. Ist das tatsächlich so? Auch heute noch, trotz hoher Mobilität und schneller Kommunikation?
Die Überzeugung, dass es die Metropolen dieser Welt sind, in denen sich Künstler:innen dank der Möglichkeiten der Vermarktung und Vernetzung einen Namen machen können, ist immer noch weit verbreitet. Hingegen bietet die Provinz mit ihrer Abgeschiedenheit ausgezeichnete Voraussetzungen für Konzentration und Selbstfindung.
Provinz oder Metropole? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, besucht on art Magazine Künstler:innen, die der Provinz den Vorzug geben und fragt nach, was "Landleben" für ihre Produktion und für ihre wirtschaftliche und soziale Situation bedeutet.

“Was ich hier schon immer und von Anfang an mache, ist Fotografieren!”

Anne Schwalbe in Werben an der Elbe.

Die in Berlin geborene Künstlerin Anne Schwalbe fährt seit 20 Jahren nach Werben und fotografiert Landschaften, die Elbe, die sie umgebende Natur, Gärten. Vor einigen Jahren kaufte sie sich in der kleinsten Hansestadt an der Elbe ein etwa 200 Jahre altes Pfarrwitwenhaus, das sie saniert und von dem aus sich allem voran ihre Bildfindungen vollziehen. Wie sich ihr Leben im Pendeln zwischen Berlin und Werben gestaltet und welche Unterschiede und Vorteile sie für sich und ihre Arbeit auf dem Land sieht, erzählte sie bei einem Besuch in Werben.

Saure Gurken und Zanderbacken: Der Weg nach Werben

Anne Schwalbes Weg zur Fotografie ist eng verbunden mit dem Ort Werben. Durch eine Klassenfahrt im Juni 2003 im Kontext ihres nur kurz zuvor aufgenommenen Studiums der Fotografie bei Werner Mahler an der Berliner Fotoschule “fas – Fotografie am Schiffbauerdamm” entdeckte die Künstlerin die Hansestadt Werben im Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt, und zwar durch die Initiative ihres Lehrers Mahler: Eine Woche lang durften seine Studierenden in dem Haus des befreundeten Restaurators Bernd Dombrowski leben und den Ort an der Elbe fotografisch erkunden. Diese Reise war aufgrund der Landschaft und der Atmosphäre des Ortes ein Initialmoment für Anne Schwalbe und einige ihrer Kommiliton:innen, die bereits im Winter sowie im Folgejahr mehrmals nach Werben zurückkehrten, um dort ein Fotografie-Projekt umzusetzen, das im Sommer 2004 in eine Ausstellung in der Salzkirche und im Stadtgebiet mit einhergehender Publikation mündete. Manche fotografierten Menschen in ihrem Alltag, machten Porträts im Schwimmbad. Anne Schwalbe hatte bereits da schon Landschaften fotografiert. So etwa einen Kiesberg im Winternebel nach der Erneuerung des Deiches im Zuge des Hochwasser-Sommers an der Elbe 2002. Oder die Texturen damals noch leerstehender Häuser, in denen sie Schichten jahrzehntealter Tapeten aufnahm – schon lange sind diese Häuser nun verkauft oder saniert. Schwalbe, die 1974 in Berlin geboren wurde, lernte 1999 zu fotografieren und machte in dieser Zeit Bilder mit einer analogen Kleinbildkamera auf Schwarz-Weiß-Film. Zu Beginn ihrer Zeit an der Fotoschule kaufte sie sich die zweiäugige analoge Mittelformatkamera “Yashica Mat 124-G”, mit der sie heute noch auf Farbfilm fotografiert und die sie seither begleitet. Schwalbes Studien führten sie über die “fas” an die Berliner “Ostkreuzschule für Fotografie”, und neben Ute Mahler und Werner Mahler zählte auch Arno Fischer zu ihren Lehrer:innen. Während dieser Zeit brachten die mehrfachen Aufenthalte in der kleinsten Hansestadt an der Elbe ein intensives Kennenlernen des Ortes, seiner Landschaft und Menschen mit sich. Es ist dieses Gefüge, das sich mit Schwalbes Begeisterung für die Natur in und um Werben herum verbindet und das sie dazu bewegt (hat), wiederzukommen.

Lehm in die Hände nehmen – ein Haus nahe der Elbe (er-)finden

Früh aufzustehen und noch vor dem Frühstück mit dem Fahrrad loszufahren, durch Felder, über den Deich, entlang solitär stehender Bäume – um zu sehen, zu finden, um auf das Wasser des Flusses zu schauen und auf die weiten Wiesen: Das fing in Werben an und ist noch heute Teil von Anne Schwalbes fotografischer Bildfindung. Bei einer ihrer Fahrten mit dem Rad, die sie unternahm, als sie 2012 aus Faszination für den Ort ein Stipendium der VG Bild-Kunst für einen Forschungsaufenthalt in Werben beantragt und erhalten hatte, entdeckte sie das Haus, das sie 2014 kaufte und in dem wir Ende Januar 2023 sitzen und miteinander sprechen. Dabei sagt Anne Schwalbe, dass sich ganz klar mit dem Ort ihr Interesse für das Haus und für das permanentere Dasein in Werben entwickele: “Ich habe das Haus gekauft ohne einen Plan, ich wusste einfach: Ich will hierhin.”

Schwalbe hat im Verlauf der Zeit umfänglich Kontakte zu den Menschen im Ort aufgebaut, deren Freundlichkeit und Vielfalt sie schätzt. “Hier kommen sehr viele verschiedene Menschen und Ideen zusammen und dadurch passiert viel”, so die Künstlerin. Über die Arbeit am eigenen fotografischen Werk erhielten für sie das Miteinanderarbeiten und der Austausch von Fähigkeiten Bedeutung: Arbeitseinsätze im Zusammenhang von Hausinstandsetzungen brachten so zum Beispiel bis dahin weniger ausgeübte Tätigkeiten mit sich, wie Steine zu putzen und zu mauern. Auch in ihrem eigenen Haus, einem etwa 200 Jahre alten Pfarrwitwenhaus, das an der ehemaligen Stadtgrenze liegt, vollziehen sich ihre Tagesabläufe differenziert zu jenen in der Metropole Berlin, bringt die Substanz des Gebäudes Praktiken mit sich, die existenzielle Bedingungen von Menschsein, Wohnen und die Rhythmen der Natur in den Fokus rücken. Nach dem Aufstehen Holz zu hacken, ein Feuer im Ofen zu machen, damit Wärme an kalten Tagen zu erzeugen oder aber auch Wasser zu erhitzen – das sind Handlungen, die für viele kaum je Teil ihres Bewusstseins (geworden) sind. “Ich bin froh, diesen Prozess kennengelernt zu haben”,sagt Anne Schwalbe, während sie inmitten unseres Wortwechsels aufsteht, um ein neues Holzscheit im Ofen aufzulegen.

Fotografische Bedingungen

Das Fotografieren und das Leben in Werben haben sich parallel entwickelt, sagt Schwalbe. Umgeben von Negativen und Bildern ist sie aber nur in ihrer kleinen Atelier-Wohnung auf der Berliner Ackerstraße. “Dass ich zwischen Berlin und Werben pendele und ich immer noch mehr in Berlin bin, hängt auch damit zusammen, dass mein Haus in Werben noch nicht saniert ist: In der aktuellen Situation ist die Luftfeuchtigkeit für meine Fotografien, Negative und Bücher einfach zu hoch.”

Wie in Werben ist eine soziale Infrastruktur mit kurzen Wegen und zwischenmenschlichem Austausch in ihrem Berliner Leben für sie von besonderem Wert. So führt auf der Ackerstraße gleich nebenan ein Tischler seine Werkstatt, den sie schon lange kennt, der für ihre Bilder Rahmen anfertigt und in dessen Werkstatträumen sie bereits einige Projekte verwirklicht hat. Im Berliner Umfeld erhalten die in Werben aufgenommenen und ausformulierten Fotografien ihre materiale Substanz, gehen in Zirkulation. Es sind vor allem die Möglichkeiten der Produktion und Archivierung von Bildern, die Schwalbe noch an die urbanen Strukturen beziehungsweise an ihr Atelier in Berlin binden. Sie ist zudem Mitglied in einer Laborgemeinschaft in Berlin-Neukölln: Dort im Fachlabor vergrößert sie ihre Bilder, fertigt Handabzüge ihrer Editionen und setzt ebenfalls die größeren Prints ihrer Fotografien selbst um.

Ausgestellt hat die Künstlerin ihre Bilder seit dem Kauf ihres Hauses auch in Werben: 2015 in der Salzkirche und im öffentlichen Raum, 2019 in einem Ausstellungsraum, in dem sie neben ihren Fotografien gefundene Werkzeuge mit selbst geschnitzten Stielen zeigte. “Ich versuche, mit der Sanierung des Hauses schneller voranzukommen, um diese Prozesse insgesamt hier umsetzen zu können.” Um das Voranschreiten der Haussanierung wirtschaftlich zu stützen, verkauft Schwalbe regelmäßig Editionen oder Publikationen, deren Erlöse ihrem Haus zufließen: so ihr handgemachtes Buch There is a white horse in my garden, das in fotografischen Bildern von dem Beginn ihrer Zeit mit diesem Haus erzählt, oder die Ansicht eines Silberblattes, die konkret dem Giebelbau des Hauses zugute kommt. Zuträglich ist ihr der von ihr vor einigen Jahren eingerichtete Online-Shop, über den sie ihre fotografischen Bilder als Handabzüge und in verschiedenen Druckerzeugnissen anbietet. Er eröffnet ihr zugleich auch die Perspektive, nach abgeschlossener Sanierung des Hauses ortsunabhängig agieren zu können, das bedeutet, ihr Atelier und die für fotografische Bilder notwendigen Arbeitsmaterialien in ihr Haus unter dann geschaffenen, adäquaten klimatischen Voraussetzungen umzusiedeln. Denn: “Wenn ich mich für einen Ort entscheiden müsste”, ergänzt Schwalbe, “würde ich sofort hierher gehen.”

Die Besonderheit dessen, was zu sehen und zu teilen ist

Der Blick fällt aus dem schmalen Küchenfenster auf einen großen Baum hinter dem Haus, in dem eine Schar Meisen tanzt. Die ersten Knospen werden grün, die Vögel singen. “Für meine Arbeit sind die Natur, die Gärten und ihre jahreszeitliche Veränderung total wichtig”, sagt Schwalbe. “Hier entstehen Bilder, die so in Berlin nicht entstehen würden.”

Denn um die Hansestadt legt sich ein Ring aus vielfältigen Gärten, umschlossen von der Natur, gesäumt von den blauen Wellen der Elbe – die Schwalbe “durch einen guten Fehler”, wie sie sagt, im Farblabor vor einigen Jahren in Rosa hüllte und die sie seither (wie in ihrem Haus als Posterdruck) begleiten. Sie sind zu einem ihrer beliebtesten Bilder geworden. Das Orientieren an Hell und Dunkel, das heißt an den Lichtverhältnissen der Jahreszeiten und der damit einhergehenden Vegetation, fließt in Anne Schwalbes Bilder ein. Und auch über Gärten und das Gärtnern zu sprechen ist zu einem Bestandteil von Schwalbes Leben geworden. In Reaktion auf ihr Werbener Umfeld hat die Fotografin ihre Garten-Kolumne Die Gärten der anderen für das ZEIT-Magazin entwickelt, in deren Rahmen sie unter anderem ein Blumenfeld mit Cosmeen, ein aus alten Fenstern gebautes Tomatengewächshaus oder eine kunstvoll gewachsene Rosenkohlpflanze fotografierte und in Erzählungen aus Bildern und Texten gebracht hat. Durch ihre hautnahe Beschäftigung mit Gärten und dem Bodenkontakt sieht sie mitunter auch den Vorteil, der sich aus einem Leben ausschließlich in ihrem Haus in Werben ergäbe. So könnte sie ihren eigenen Garten konstant und gezielter bewirtschaften. “Ich habe hier verstanden, was ‘Der Weg ist das Ziel’ bedeutet. Ich bin sehr dankbar und froh, diesen Ort hier zu haben. Er gibt mir sehr viel in verschiedenster Hinsicht: Inspiration, Freude, Nahrung … und natürlich Bilder!”

Foto: Stephan Lucius Lemke

Weitere Informationen zur Künstlerin

Die Künstlerin im Netz:
www.anneschwalbe.de
https://anneschwalbe.shop

Ausstellungen:
2. Februar bis 3. Mai 2023 im Diakonissenkrankenhaus Dresden
27. Mai bis 1. September 2023 in der “Wassermühle Nebeltal” in Kuchelmiß